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„Wissenschaft“ in Krisenzeiten

Rezension zu Kai Ambos, Doppelmoral: Der Westen und die Ukraine

17.11.2022

Veröffentlichungen von Wissenschaftler*innen, die sich an ein breites Publikum richten, haben in Zeiten der Corona-Pandemie und des Krieges in der Ukraine Konjunktur, erscheinen sogar in Bestsellerlisten. Unter diesen Veröffentlichungen lassen nicht wenige die Einhaltung anerkannter wissenschaftlicher Standards vermissen. Teilweise werden fragwürdige politische Meinungsäußerungen, die verschwörungstheoretische Narrative bedienen, unter dem Deckmantel des wissenschaftlichen Strebens nach Wahrheit vertreten. Vor diesem Hintergrund wurde kürzlich von Klaus Ferdinand Gärditz auf dem Verfassungsblog diskutiert, wo die Grenze zwischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit verläuft und was das Mäßigungsgebot für Wissenschaftler*innen im öffentlichen Dienst bedeutet. Ein Grenzgänger in dieser Hinsicht ist Kai Ambos‘ kürzlich erschienener Essay Doppelmoral: Der Westen und die Ukraine.

Fragwürdiger Ausgangspunkt

Der Essay widmet sich der Frage, ob der Westen den Anspruch erheben kann, mittels seiner Ukraine-Politik das Gewaltverbot und die regelbasierte Völkerrechtsordnung insgesamt zu verteidigen. Ambos beantwortet die Frage mit einem Nein. Die Reaktion des Westens auf den russischen Angriffskrieg erfahre keine globale Unterstützung, sondern vielmehr Ablehnung aus dem Globalen Süden (1. Kapitel). Der Grund hierfür liege in den Widersprüchlichkeiten des eigenen Umgangs mit dem Völkerrecht (2. Kapitel). Nur wenn der Westen das Völkerrecht vollumfänglich einhalte, könne er glaubwürdig die Wahrung der Völkerrechtsordnung einfordern (3. Kapitel).

Bereits der Ausgangspunkt des Essays, wonach der deutschen Diskussion die Annahme zugrunde liege, unsere Verurteilung des russischen Angriffskriegs werde von der ganzen Welt geteilt, ist angesichts der großen Meinungsverschiedenheiten um Waffenlieferungen, Sanktionen und diplomatisches Vorgehen fragwürdig. Zudem stellt Ambos die Verteidigung der Völkerrechtsordnung als das entscheidende Motiv für die Reaktion des Westens dar. Andere politische Motive, etwa der Schutz des ukrainischen Volks vor russischem Terror, der Schutz der liberalen Demokratie in Europa oder die Befürchtung einer weiteren russischen Expansion insbesondere in die Baltischen Länder, Polen und Finnland finden keine Erwähnung. Dass hinsichtlich der Verteidigung der Völkerrechtsordnung zumindest mit Blick auf die Verstöße gegen das Gewaltverbot und fundamentale Regeln des humanitären Völkerrechts nicht nur ein Anspruch, sondern gem. Artikel 41 der Articles on States Responsibility bzw. des gemeinsamen Artikel 1 der Genfer Konventionen von 1949 auch eine Pflicht angenommen werden kann, bleibt ebenfalls unerwähnt.

Während Ambos‘ Aufforderung an den Westen, das Völkerrecht selbst einzuhalten, um glaubwürdiger die Wahrung der Völkerrechtsordnung einfordern zu können, vollends zuzustimmen ist, bestehen teils erhebliche Zweifel an der Richtigkeit seiner Analyse zur mangelnden Unterstützung der westlichen Reaktion durch den Globalen Süden und zu den Gründen hierfür. Zudem wirft der vermeintliche Adressat*innenkreis des Buchs Fragen auf. Insgesamt ist der Essay von pauschalen Behauptungen ohne Belege, dem Auslassen von Informationen und der mangelnden Auseinandersetzung mit divergierenden Ansichten geprägt. Im Einzelnen:

Erfährt die westliche Reaktion keine Unterstützung des Globalen Südens?

Im ersten der drei Kapitel des Essays meint Ambos zu erkennen, dass der Globale Süden die westliche Reaktion auf den russischen Angriffskrieg nicht unterstütze. Seine Erkenntnis stützt er auf die Enthaltung und Abwesenheit einiger Staaten bei der Abstimmung zu den Resolutionen ES-11/1 zur Verurteilung der russischen Aggression vom 2. März 2022 und ES‑11/3 für die Suspendierung Russlands aus dem UN-Menschenrechtsrat vom 7. April 2022, wenngleich diese eine überwältigende Mehrheit in der UN-Generalversammlung erfahren haben. Später behauptet Ambos ohne eine Quellenangabe, Staaten des Globalen Südens würden „Russland insgesamt dankbar“ sein und empfänden „klammheimlich wohl eine gewisse Schadenfreude“ (S. 53). Als Begründung verweist Ambos auf die regionale Verteilung der Stimmen (für die Resolution ES-11/1 35 Enthaltungen aus Afrika (17), Asien (14) und Lateinamerika (4) sowie 12 abwesende Staaten aus dem Globalen Süden). Diese zeigten, dass sich der Globale Süden deutlich von der westlichen Position distanziere. Ambos nimmt sogar an, dass die abwesenden Staaten bei Anwesenheit gegen die Resolutionen gestimmt hätten. Eine Einzelanalyse der individuellen Motivation für das Abstimmungsverhalten hält er für nicht notwendig (S. 20).

Seine Interpretation des Abstimmungsverhaltens sowie die im Zwischenfazit festgestellte „Ukraine fatigue“ der Staaten des Globalen Südens (S. 30) stehen angesichts des Abstimmungsergebnisses bei der Resolution ES-11/4 zur Verurteilung der Scheinreferenden vom 12. Oktober 2022, die für das Buch freilich noch nicht berücksichtigt werden konnte, in Zweifel. Denn hier haben die bei der Abstimmung zur Resolution ES-11/1 noch abwesenden Guinea-Bissau und Marokko für die Verurteilung der Scheinreferenden gestimmt, andere zuvor abwesende Staaten haben sich enthalten. Einzig Nicaragua hat Ambos‘ Hypothese bestätigt. Auch haben Staaten des Globalen Südens, die sich bei der Resolution ES-11/1 noch enthalten hatten, für die Resolution ES-11/4 gestimmt (Angola, Bangladesch, Irak, Madagaskar, Senegal). Nach Ambos‘ Logik hätten sich diese Staaten weiterhin enthalten bzw. abwesend sein müssen.

Aber auch ohne die neuen Erkenntnisse zum Abstimmungsverhalten bei der Resolution ES-11/4 hätte eine Analyse der Stellungnahmen zur Resolution ES-11/1, insbesondere von Bhutan, Djibouti, Kambodscha und Myanmar, Ambos möglicherweise zu einer vorsichtigeren Interpretation geführt (siehe auch die Stellungnahmen vor der Abstimmung zu Resolution ES-11/4). Ein weiterer Mangel an Genauigkeit besteht in der Angabe, die BRICS hätten sich allesamt enthalten (S. 21), obwohl Brasilien der Resolution ES-11/1 zugestimmt hat. Darüber hinaus drängt sich bei genauerem Hinsehen auch eine andere Lesart auf, die Ambos nicht anspricht: Statt einer Unterteilung in Globaler Süden und Globaler Norden ist nämlich auch eine Unterteilung in autokratische Staaten und liberal-demokratische Staaten mit dem Abstimmungsverhalten bei den UN-Resolutionen vereinbar.

Ambos sieht über das Abstimmungsverhalten hinaus weitere Belege für eine ablehnende Haltung des Globalen Südens gegen die Reaktion des Westens (S. 22-30). Er führt an, dass die Staaten des Globalen Südens, die für die Resolutionen ES-11/1 und ES-11/3 gestimmt haben, keine Sanktionen gegen Russland verhängt und die Ukraine nicht (militärisch) unterstützt haben und sich auch nicht an der Verfolgung russischer Kriegsverbrechen beteiligen, stattdessen weiterhin diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu Russland unterhalten. Auch würde keine über die UN-Resolutionen hinausgehende verbale Kritik an Russland geäußert. Er geht näher auf (wenige) Beispiele ein, darunter die Türkei und Mexiko. Ambos sieht hinsichtlich der Türkei darin eine Bestätigung seiner These, dass diese zwar Drohnen an die Ukraine geliefert habe, sich aber im Übrigen, obwohl sie NATO-Mitglied sei, den EU-Sanktionen widersetzt habe und sich stattdessen als Vermittler „geriere“. Aufgrund der wichtigen Rolle der türkischen Drohnen in der Abwehr russischer Truppen gerade zu Beginn des Krieges, der Tatsache, dass die Türkei als regionale Macht in den Konflikten in Syrien und Bergkarabach möglicherweise ein anderes Vorgehen gegenüber Russland wählen muss, und der entscheidenden Vermittlerrolle der Türkei für den Getreideexport aus der Ukraine, steht das Beispiel Türkei, die dazu kein EU-Mitglied ist und sich den Sanktionen nicht beugen muss, als Bestätigung für Ambos‘ These auf tönernen Füßen.

Auch das Beispiel Mexiko verfängt nicht. Hier führt Ambos an, dass in der öffentlichen Diskussion sehr viel Verständnis für die russische Position gezeigt werde. Er zitiert hierfür zwei Artikel, die zu Beginn des Krieges in La Jornada erschienen sind, eine linke Zeitung, die für die Wiedergabe russischer Propaganda kritisiert wurde, darunter einen Artikel eines chilenisch-spanischen Wissenschaftlers. Da sich auch in Ländern des Globalen Nordens in sämtlichen Medien von links nach rechts vergleichbare Artikel finden lassen, ist zweifelhaft, dass diese zwei von Ambos zitierten Artikel repräsentativ für den öffentlichen Diskurs in Mexiko sind. Mit Äußerungen mexikanischer Völkerrechtler*innen (siehe z.B. hier) beschäftigt sich Ambos nicht. Als weiteren Beleg führt Ambos die Bildung einer mexikanisch-russischen Freundschaftsgruppe in der mexikanischen Abgeordnetenkammer im März 2022 an. Dass diese nicht als Reaktion auf den Krieg und auch nur von einer kleinen Gruppe von Parlamentarier*innen gegründet wurde, die ganz überwiegend aus Mitgliedern der sozialistischen Partido del Trabajo besteht, und ihre Einsetzung als eine von 100 Freundschaftsgruppen außerdem bereits im September 2021 gebilligt wurde, wird nicht erwähnt. Von der Bildung einer mexikanisch-ukrainischen Freundschaftsgruppe erfährt der/die Leser*in nur in einer Endnote, deren Gründung, anders als von Ambos dargestellt, auch nicht als Reaktion auf die mexikanisch-russische Freundschaftsgruppe beschlossen wurde, sondern ebenfalls bereits im September 2021. Zuletzt verweist Ambos auf einen Vorschlag des mexikanischen Außenministers zu Verhandlungslösungen samt Friedensplan, der von der Ukraine zurückgewiesen wurde. Dies als Beleg für eine mangelnde Unterstützung der Reaktion des Westens heranzuziehen steht in Kontrast zur mexikanischen Position vor der Abstimmung zur Resolution ES-11/4 und zu vorangegangenen ähnlichen Initiativen Mexikos u.a. gemeinsam mit Norwegen und Frankreich. Dass sich Mexiko an der Strafverfolgung russischer Kriegsverbrechen durch den IStGH beteiligt, scheint für Ambos irrelevant.

Keine Erwähnung finden die humanitäre, aber auch militärische und finanzielle Hilfe an die Ukraine durch mehrere Staaten des Globalen Südens, darunter Pakistan und Kolumbien, das sogar ukrainisches Militär im Minenräumen ausbildet. Gleiches gilt für das Abstimmungsverhalten der IGH-Richter*innen bei der Order of 16 March 2022 sowie der Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats aus dem Globalen Süden. Es findet auch keine Auseinandersetzung mit alternativen Erklärungsmöglichkeiten für das Verhalten der Staaten des Globalen Südens statt. So könnte die Stimmenthaltung ehemaliger Sowjetrepubliken nicht als Loyalität gegenüber Russland (S. 20-21) gedeutet werden, sondern als Unterstützung der westlichen Reaktion. Hierfür sprechen die zunehmende Distanzierung Kasachstans von Russland (siehe hier und hier), die Warnung Usbekistans gegenüber seinen Bürger*innen davor, Mobilisierungsaufforderungen Russlands zu folgen sowie die humanitäre Hilfe dieser beiden Staaten und Turkmenistans an die Ukraine. Das Absehen von Sanktionen, (militärischer) Unterstützung der Ukraine oder öffentlicher Kritik an Russland könnte in dem Fehlen sanktionswürdiger wirtschaftlicher Beziehungen mit Russland, in der Abhängigkeit von Russland (und China) oder in der Wahrnehmung des Kriegs in der Ukraine als regionaler Konflikt in Europa liegen. Da selbst der Westen weiterhin diplomatische und außerhalb des Sanktionsregimes auch wirtschaftliche Beziehungen zu Russland pflegt, sollte der Aufrechterhaltung von Beziehungen dieser Art mit Russland durch Staaten des Globalen Südens keine große Bedeutung beigemessen werden.

Die Doppelmoral des Westens im Umgang mit dem Völker(straf)recht als Grund für fehlende Unterstützung

Ambos begibt sich im zweiten Kapitel auf die Suche nach den Gründen für die von ihm ausgemachte fehlende Unterstützung durch den Globalen Süden. Einen ersten „wichtigen“ Grund will er in den Third World Approaches to International Law (TWAIL) ausfindig machen (S. 33-36). Mit Verweisen auf Makau W. Mutuas neunseitigen Aufsatz, der zwar einflussreich ist, aber aus dem Jahr 2000 stammt, sowie Juan Pablo Scarfis The Hidden History of International Law in the Americas aus dem Jahr 2017, das für seine verkürzte Darstellung und mangelnde Nachweise kritisiert wurde, reduziert Ambos TWAIL darauf, dass sie die Völkerrechtsordnung, wie sie vom Westen versucht wird aufrechtzuerhalten, in Frage stellen. Ein Beispiel, dass TWAIL tatsächlich ein wichtiger Grund für die fehlende Unterstützung durch den Globalen Süden ist, etwa ein Bezug von Vertreter*innen des Globalen Südens in diesem Zusammenhang auf TWAIL, nennt Ambos nicht. Es bleibt bei einer vagen Behauptung. Dabei ließe sich aus einer TWAIL-Perspektive die Unterstützung des „westlichen“ Vorgehens gegen das (neo)imperialistische Russland, das vor allem von den baltischen Staaten und Polen forciert wurde, die keine Kolonialmächte waren, möglicherweise viel eher befürworten als ablehnen. Als Beispiel kann hier die Rede des kenianischen Botschafters im UN-Sicherheitsrat dienen, in der er das russische Vorgehen im Kontext der Kolonialgeschichte Afrikas als „new form of domination and oppression“ verurteilt.

Fragwürdig bleibt auch die Behauptung, die Sichtweise, dass Russland einen legitimen Verteidigungskrieg führe, würde im Globalen Süden auf offene Ohren stoßen (S. 36). Ambos begnügt sich mit Verweisen auf ein Buch, in dem Russland als Aggressor bezeichnet wird, auf einen bereits zitierten Artikel aus La Jornada vom Beginn des Krieges sowie eine Stellungnahme des südafrikanischen Präsidenten, in der er die NATO mitverantwortlich für den Krieg macht, zugleich aber sagt, dass Südafrika die Anwendung von Gewalt und die Verletzung des Völkerrechts nicht dulden könne. Da russische Propaganda auch im Westen fortlaufend wiedergegeben wird, hätte es für diese Behauptung einer umfangreicheren Begründung bedurft.

Sodann geht Ambos auf Völkerrechtsbrüche des Westens ein (S. 37-49), zunächst auf die Verstöße gegen das Gewaltverbot in den Kriegen im Kosovo und im Irak, in dem es, anders als von Ambos beschrieben (S. 38), keinen Einsatz von NATO-Streitkräften gegeben hat. Ambos‘ Darstellung impliziert, dass diese Verstöße gegen das Gewaltverbot durch „den Westen“ auf gleicher Stufe mit Russlands Angriffskrieg in der Ukraine stehen. Für Ambos bestehen Unterschiede, „sofern man sie überhaupt akzeptiert, bestenfalls gradueller Natur“ (S. 51). Wie Anne Peters sowie Ingird Brunk und Monica Hakimi zeigen, ist es aber durchaus angebracht, die jeweiligen Verstöße des Westens einerseits und Russlands andererseits in rechtlicher Hinsicht unterschiedlich zu bewerten. Zum Beispiel verurteilte der UN-Sicherheitsrat mit den Stimmen Russlands und Chinas vor der Irak-Invasion das völkerrechtswidrige Verhalten des Iraks und belegte diesen mit Sanktionen. Die Invasion wurde nicht von den Vereinten Nationen verurteilt und die spätere Besatzung des Iraks durch die USA und Großbritannien sogar vom UN-Sicherheitsrat gebilligt. Ein solches Vorgehen gegenüber der Ukraine fand nicht statt.

Im Weiteren geht Ambos auf die Praxis des targeted killing ein (S. 38-39). Ambos zufolge hält die „ganz überwiegende völkerrechtliche Literatur (…) solche Tötungen für unvereinbar mit dem Völkerrecht, wenn sie außerhalb eines bewaffneten Konflikts begangen werden“. Für diese Aussage zitiert er hauptsächlich eigene Beiträge. Sie darf in ihrer Absolutheit angezweifelt werden (siehe z.B. den Bericht des UN-Sonderberichterstatters über außergerichtliche, summarische oder willkürliche Hinrichtungen, der die Völkerrechtswidrigkeit offenlässt). Als Beispiele nennt Ambos die gezielten Tötungen von Ayman al-Zawahiri und Osama bin Laden durch die USA. Bezüglich al-Zawahiri meint Ambos, dass die Tötung gegen Völkerrecht verstoße, da sich die USA nicht mehr im Krieg mit Afghanistan befinden. Die Frage, ob sich die USA möglicherweise (noch) in einem bewaffneten Konflikt mit al-Qaida befinden und ob al-Zawahiri sich direkt an Feindseligkeiten beteiligt hat, was kontrovers diskutiert wird (siehe hier und hier), wird nicht aufgeworfen (hiervon getrennt ist selbstverständlich die Frage zu diskutieren, ob die USA das ius ad bellum verletzt haben), ebenso wenig wie die Frage, ob die USA bei der Tötung Menschenrechte einhalten mussten (für eine Diskussion siehe hier und hier). Bezüglich der Tötung bin Ladens ignoriert Ambos, dass viele gewichtige Stimmen aus der Völkerrechtswissenschaft zu der Einschätzung der Völkerrechtsmäßigkeit gekommen sind (siehe hier und hier und eine Antwort auf Ambos‘ Artikel in der Israel Law Review). Vor diesem Hintergrund dürfte auch seine Auffassung, Angela Merkel, die den Tod bin Ladens begrüßt hatte, habe sich nach § 140 StGB „wohl strafbar gemacht“, falsch sein.

In beiden Fällen kann die Völkerrechtsmäßigkeit der Tötungen angezweifelt werden. Aber schlicht zu behaupten, sie seien völkerrechtswidrig, ist wissenschaftlich unsauber. Noch mehr bestürzt, dass Ambos diesen Fällen die klar (völker)rechtswidrigen Auftragsmorde der russischen Regierung in Deutschland gleichstellt (S. 39-40).

Bei den Ausführungen zu den völkerstrafrechtlichen Widersprüchen fällt vor allem die Kritik an der Ukraine auf, insbesondere ihr Umgang mit dem Amnesty International-Bericht. Den Umgang sieht Ambos als Beleg dafür, dass die Ukraine verkenne, dass das humanitäre Völkerrecht auch für sie gelte, und dass sie nicht zu unparteiischen Ermittlungen im Stande sei (S. 44-45). Weitere „Belege“ führt Ambos nicht an. Dabei ist der Amnesty-Bericht durchaus von mehreren Expert*innen unter anderem für die schlechte Beweislage und die unvollständige Darstellung der humanitär-völkerrechtlichen Anforderungen kritisiert worden (siehe z.B. hier, hier und hier). Auch kommt ein UN-Bericht zu dem Schluss, dass Verletzungen des humanitären Völkerrechts in zahlreichen Fällen von den russischen und in nur geringem Umfang von den ukrainischen Streitkräften begangen wurden (siehe auch den ODIHR-Bericht). Die unterschiedliche Schwere der im Bericht aufgeführten Verletzungen spricht Bände. Außerdem gewährt die Ukraine, anders als Russland, den Vereinten Nationen (und dem IKRK) Zugang zu Kriegsgefangenen. Den UN-Bericht hat die Ukraine, die bei vorherigen Vorwürfen angekündigt hat, diesen nachzugehen, und ihr Militär aufgefordert hat, das Recht einzuhalten, nicht abgelehnt.

Bei den zum Schluss von Ambos kurz skizzierten völkerrechtlichen Inkonsistenzen jüngerer Vergangenheit werden Informationen ausgelassen, die der/dem Leser*in möglicherweise einen vollständigeren Eindruck vermitteln, aber wohl auch die These von der Doppelmoral in Frage stellen würden. Erstens, bei den kürzlich genehmigten Waffenlieferungen Deutschlands an Saudi-Arabien handelt es sich um Restlieferungen und die Erfüllung früher eingegangener Verpflichtungen (S. 46). Zweitens, das Memorandum of Understanding zwischen Finnland, Schweden und der Türkei zur Verständigung über die NATO-Mitgliedschaft ist kein „Abkommen“ im Sinne eines völkerrechtlichen Vertrages und es bedeutet auch, anders als von Ambos behauptet (S. 46-47), keine „bedingungslose Konzession an die türkische Regierung“ für die Auslieferung von Regierungsgegnern. Schweden und Finnland, die bzgl. einer Auslieferung etwaiger „Terrorverdächtiger“ lediglich zugesagt haben, die Auslieferungsgesuche der Türkei zu „behandeln“, sind in ihren Entscheidungen weiterhin an nationales wie internationales Recht gebunden. Drittens, dass Großbritannien, wie von Ambos behauptet, mit der diskutierten Bill of Rights faktisch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) untergraben werde, kann schon deshalb bezweifelt werden, weil die in Großbritannien wiederholt geäußerten Drohungen eines Austritts aus der EMRK vor allem nach Verurteilungen Großbritanniens durch den EGMR nie realisiert wurden. Selbst bei einem Austritt Großbritanniens würde das (auch national hohe und gefestigte) Menschenrechtsniveau, nicht, wie von Ambos dargestellt (S. 47), mit dem Russlands auf einer Stufe stehen.

Die Adressat*innen des Buchs und die Standards wissenschaftlichen Arbeitens

Bedenklich sind die Plattformen, die Ambos für die Verbreitung seiner Thesen, die wohl nicht für den wissenschaftlichen Diskurs gedacht sind, wählt. Das Buch ist im Westend-Verlag erschienen, der spätestens seit der Corona-Pandemie die Querdenkenszene bedient und unter anderem mit den Nachdenkseiten kooperiert, die einer Studie zufolge „als Träger von Ideologie, Scharnier für Verschwörungstheorien und Agenda-Setzer der radikalen Systemopposition“ agieren. Darüber hinaus ist ein Ausschnitt des Buchs im Multipolar-Magazin veröffentlicht, das durch seinen Namen an das Hauptwerk des immer wieder von Putin zitierten faschistischen russischen Philosophen, Alexander Dugin, erinnert und für Leseempfehlungen, auch direkt neben Ambos‘ Text, auf die Russischen Staatsmedien Russia Today und Sputnik und andere für die Verbreitung von Verschwörungstheorien und Kreml-Propaganda bekannte Internetseiten verweist. Die von Ambos in diesem Kontext gewählte Sprache, z.B. „gesellschaftlicher Mainstream“, „der Westen“, „multipolare Weltordnung“, und einige seiner Behauptungen, z.B. die Strafbarkeit Angela Merkels oder dass der Westen die Ukraine die Völkerrechtsordnung in seinem Namen verteidigen ließe, bedienen typische Narrative der Kreml-Propaganda und verschwörungsideologischer Medien wie z.B. die des manipulativen, imperialistischen Westens und angeblich regierungskonformer Mainstreammedien.

Sowohl im Buch als auch unter dem Ausschnitt im Multipolar-Magazin wird auf Ambos unter anderem als Professor an der Universität Göttingen und als Richter am Kosovo Sondertribunal in Den Haag verwiesen. Im Vorwort zum Buch erklärt Ambos, er habe den Essay in seiner „akademischen Funktion“ geschrieben – anders als im Vorwort wird im Multipolar-Magazin jedoch nicht angegeben, dass dieser nicht dem Kosovo Sondertribunal zugerechnet werden kann. Mit alldem verleiht Ambos dem Buch und dem Ausschnitt im Multipolar-Magazin den Anschein von Wissenschaftlichkeit (und durch den Hinweis auf seine Richtertätigkeit auch den Schein besonderer Unvoreingenommenheit) und damit, auch wenn Ambos explizit den russischen Angriffskrieg verurteilt, propagandistischen und verschwörungstheoretischen Positionen, die in seinem Essay Bestätigung suchen, Legitimität (wie hier bereits geschehen). Gemessen an der Polarisierung der Diskussion zum russischen Angriffskrieg und der politischen Debatten in Deutschland insgesamt, sollte, auch wenn das Buch als „Essay“ erschienen ist, ein in „akademischer Funktion“ verfasster Text wissenschaftlichen Standards entsprechen. Diese hat Ambos erst kürzlich selbst eingefordert und hier insbesondere die Kriterien der Substanz und der Auseinandersetzung mit einschlägiger Literatur genannt. Schon diese beiden Kriterien erfüllt der Essay nicht.

 

 

Anmerkung der Redaktion

Der Völkerrechtsblog legt großen Wert darauf, unterschiedliche Perspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen. Leider konnten wir den Autoren des Buches nicht für eine Antwort, auf die hier veröffentlichte Rezension, gewinnen. Vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt auf Anregung des Autors des rezensierten Buches selbst, möchten wir Wissenschaftler*innen mit unterschiedlichem akademischen Hintergrund einladen, sich ebenfalls mit dem Buch bzw. seinem übergeordneten Thema auseinanderzusetzen. Vorschläge für Rezensionen und thematisch verwandte Beiträge gerne an review@voelkerrechtsblog.org.

Author
Linus Mührel

Linus Mührel ist Rechtsreferendar am Kammergericht Berlin und arbeitet an der Professur für Völkerrecht, Europarecht und Öffentliches Recht an der TU Dresden.

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