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Rechte Ohne Rechtssubjektivität?

Das Peruanische Urteil Zum Marañón-Fluss

26.03.2025

Die Rechte der Natur finden weltweit zunehmend Eingang in Gerichtsverfahren. So kommt es, dass am 15. März 2024 auch erstmals vor einem peruanischen Gericht die Rechte eines Flusses und die Rolle eines indigenen Volkes, bei deren Wahrnehmung behandelt wurden. Im folgenden Beitrag wird dieser Rechtsstreit näher vorgestellt und in seinen Besonderheiten beleuchtet. Der vorläufige Ausgang des Falles mag vor dem Hintergrund der schwachen Rechtsstellung von Indigenen Völkern und der Umwelt in Peru überraschen, offenbart aber gerade dabei neue Möglichkeiten der Implementierung der Rechte der Natur auch in Rechtsordnungen, in denen diese nicht explizit gesetzlich verankert sind. 

Rechtlicher Kontext in Peru: Kein Lateinamerikanischer Konstitutionalismus

In der peruanischen Amazonasregion werden annähernd 50 verschiedene indigene Sprachen gesprochen. Soziolinguistisch und zunehmend auch politisch werden die Sprachgruppen heute als „Indigene Völker“ bezeichnet. Die staatliche Rechtsordnung Perús erkennt jedoch keine Indigenen Völker im Sinne politischer Einheiten oder – entsprechend – als Rechtsträger über traditionelle „ethnische“ Territorien an. Auf Grund von nach wie vor geltenden Regelungen aus den 1970er Jahren (“Ley de Comunidades Nativas y de Desarrollo Agrario de las Regiones de Selva y Ceja de Selva”, urspr. Decreto Ley 20653, ergänzt durch Decreto Ley 22175) werden vielmehr im peruanischen Amazonasraum sogenannte Comunidades Nativas anerkannt. Das Decreto Ley 22175 unterscheidet dabei zwischen landwirtschaftlichen (tierras de aptitud agropecuaria) und forstwirtschaftlichen (tierras de aptitud forestal o de protección) Ländereien. Die rechtlich als Comunidades Nativas konstituierten juristischen Personen erhalten – im Wege eines komplizierten bürokratischen Verfahrens – über den ersten dieser Landtypen kollektive Eigentumsrechte, über Länder mit Eignung für forstwirtschaftliche Nutzung aber lediglich Nutzungsverträge. Nach neueren Angaben kann von bis zu 2700 Comunidades Nativas im peruanischen Amazonasraum ausgegangen werden, von denen ca. 700 keine staatsrechtlich anerkannten Titel besitzen. 

Die am 1. Januar 1994 in Kraft getretene Verfassung Perus enthält einige Referenzen zu Rechten indigener Gemeinschaften und umweltpolitischer Zielsetzungen. Art. 89 der Verfassung Perus spricht bäuerlichen und eingeborenen Gemeinschaften, respektive den oben beschriebenen Comunidades Nativas, Rechtspersönlichkeit zu und erkennt sie als juristische Personen an, die autonom über ihr Land verfügen können. Ergänzend zu erwähnen ist Art. 2.22 der Verfassung Perus, worin das Recht jeder Person auf eine ausgewogene und für die Entwicklung seines Lebens angemessene Umwelt festgeschrieben wurde. 

Dieser verfassungsmäßige und rechtliche Rahmen des Landes reicht allerdings nicht aus, um ihn dem sogenannten ‚Neuen Lateinamerikanischen Konstitutionlismus zuzuordnen, welcher vor allem die Staatsverfassungen anderer Andenstaaten prägt. Der ‚Neue Lateinamerikanische Konstitutionalismus‘ kennzeichnet sich insbesondere durch die Ausgestaltung einer plurinationalen Staatlichkeit, einer partizipativen Entstehungsgeschichte und durch den Anspruch einer ökozentrischen Grundlage der Rechtsordnung. In Peru finden sich jedoch keine Anhaltspunkte für Eigenrechte der Natur oder eine besondere Rolle Indigener Völker für deren Wahrung, wodurch sich die Voraussetzungen für die Anerkennung von Rechten der Natur maßgeblich von anderen Staaten wie Ecuador oder Bolivien unterscheidet.

Die Klage Der Hüterinnen Des Flusses

Im September 2021 wurde von Huaynakana Kamatahuara Kama (sinngemäß: „Der Fluss ist lebendig“), einer Föderation von Frauen des indigenen Kukama-Volkes, eine gerichtliche Klage  eingebracht. Kukama leben in zahlreichen Siedlungen entlang des Marañón-Flusses. Hintergrund des Falles ist das Oleducto Norperuano, eine Ölpipeline, die von den Fördergebieten im nördlichen Loreto nach ca. 1100 km und nach Querung der Anden, im Hafen Bayóvar an der Pazifikküste, endet. Der (südliche) Hauptast der Ölleitung läuft etwa 300 km durch tropischen Regenwald entlang des Marañón-Flusses. Indigene Bewohner der Region klagen seit Jahrzehnten über die Folgen von Wartungsfehlern und Lecks (siehe Details in der Klage). 

Vor diesem Hintergrund wurden das peruanische Umweltministerium, das Energie- und Bergbauministerium, die nationale Wasserbehörde, mehrere regionale Behörden und die Betreibergesellschaft Petroperú verklagt. Die Klage stützt sich auf die Zerstörung von Flora und Fauna und auf potenzielle und reale Schädigungen von menschlichem Leben und Gesundheit.

Die zentrale Forderung ist die „Anerkennung des Marañón-Flusses und seiner Zuflüsse als Rechtssubjekt“ (Klage, S. 4). Darüber hinaus wird die Einrichtung eines „Interregionalen Rates für das Einzugsgebiet des Marañón-Flusses“, unter Einbeziehung der indigenen Organisationen von Loreto, die „Anerkennung und Ernennung des Staates und der indigenen Organisationen als Hüter, Verteidiger und Vertreter des Marañón-Flusses“, die Instandhaltung des Oleodukts, sowie die Aktualisierung eines Umweltmanagementplans gefordert (Klage, S. 4). Die in der Klageschrift formulierten Forderungen gründen in der Vielschichtigkeit der Bedeutung des Marañón-Flusses für das Kukama-Volk. Beispielsweise ist die spirituelle Beziehung, konkret die Rolle des Flusses für das Weiterleben der Menschen nach dem Tode, maßgeblich für die Forderung nach Anerkennung der Indigenen als Hüter des Marañón.

Allerdings müssen rechtliche Forderungen immer im Lichte des gegebenen Rechtsrahmens betrachtet werden. Dabei ist im vorliegenden Fall das ins Auge springende Problem: Wie kann vor dem Hintergrund des peruanischen Rechtes auf Anerkennung der Rechte eines Flusses plädiert werden? Wie bereits festgestellt, gibt es in Peru keine rechtlich verankerten Eigenrechte der Natur. Aus diesem Grund setzt die Klage auf die Vierte Übergangsbestimmung am Ende der Verfassung, gemäß welcher menschenrechtliche Verfassungsbestimmungen in Einklang mit ratifizierten internationalen Menschenrechtsübereinkommen zu interpretieren sind. Dabei wird zum einen die  Advisory Opinion 23/2017, para. 62 als außerhalb des peruanischen Rechts anerkannten Anknüpfungspunkt für eine Begründung von Rechten der Natur ausgemacht. In der Advisory Opinion stellte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte zum Menschenrecht auf eine gesunde Umwelt Folgendes fest: „Das Recht auf eine gesunde Umwelt [schützt] Natur und Umwelt […] auch aufgrund ihrer Bedeutung für die anderen Lebewesen, […] die ebenfalls aus eigenem Recht Schutz verdienen.“ 

Weiter wird der Fall Lhaka Honhat als Begründung herangezogen. In diesem Fall bezieht sich derselbe Gerichtshof auf die Aussage der Advisory Opinion, und zitiert sie in para. 203 fast gleichlautend. Schließlich wird auf den ersten Präambelsatz des UN-Übereinkommens über biologische Vielfalt verwiesen, worin vom „Eigenwert der biologischen Vielfalt“ die Rede ist. 

Die Besonderheit der peruanischen Klage liegt also darin, dass nicht ein Anknüpfungspunkt im peruanischen Recht als Grundlage der Klagebegründung dient, sondern vielmehr auf internationale rechtliche Dokumente zurückgegriffen wird, um ein Recht der Natur zu begründen. Die Klage führt zum theoretischen Stellenwert dieser internationalen menschenrechtlichen Normen aus, dass es sich nicht um die Anerkennung „neuen Rechtes“ handle, sondern Rechte der Natur vielmehr bereits in dem ausdrücklich anerkannten Recht der Verfassung (Art. 2.22) auf ausgewogene Umwelt angelegt seien. Diese methodische „Erweiterung“ des eigentlichen Verfassungswortlautes auf „angehängte Rechte“ (derechos adscritos) stützt die Klage in einer Ausführung auch auf Ansätze des deutschen Rechtstheoretikers Robert Alexy (siehe Klage, S. 39) 

Das Urteil: Der Marañón-Fluss – Keine Rechtssubjektivität Aber Inhaber Spezifischer Rechte

Am 15. März 2024 wurde schließlich die Gerichtsentscheidung, Resolución número catorce (i.d.F. Urteil) kundgemacht. Zur geforderten „Anerkennung des Marañón-Flusses und seiner Zuflüsse als Rechtssubjekt“ übernimmt sie wichtige Ausführungen der Klage, indem betont wird, dass die Betrachtung des inneren Wertes der Natur eine Dimension ist, die es bei der Auslegung des (Verfassungs-)Rechts auf saubere Umwelt zu berücksichtigen gelte (Urteil, S. 23). Hierbei hält das Gericht fest, dass der Marañón-Fluss zwar nicht als Rechtssubjekt gelten kann, es allerdings dem Gericht obliegt, den intrinsischen Wert des Flusses anzuerkennen und ein „Vorsorgeprinzip in Hinblick auf Schutz, Prävention und Erhaltung des Marañón-Flusses und seiner Nebenflüsse anzulegen“ (Urteil, S. 28). Dies habe zur Folge, dass die Pflicht besteht, „das Recht des Marañón-Flusses und seiner Zuflüsse als Rechteinhaber (titular de derechos) zu schützen“ (Id). Die Erfüllung der Forderung der Einrichtung eines „Interregionalen Rates für das Einzugsgebiet des Marañón-Flusses“ obliegt der Regionalbehörde von Loreto. Darüber hinaus hält das Gericht fest, dass die „Anerkennung und Ernennung des Staates und der indigenen Organisationen als Hüter, Verteidiger und Vertreter des Marañón-Flusses“ stattgegeben wird (Urteil, S. 28ff.).

Rechte Ohne Verpflichtungen?

Zunächst bleibt festzuhalten, dass die rechtliche Entscheidung die Erste ist, in welcher ein peruanisches Gericht Rechte der Natur behandelt. Dabei werden die Rechte eines Flusses nicht nur anerkannt, sondern durch die folgende Auflistung sogar spezifiziert: Der Fluss hat das Recht (i) zu fließen; (ii) ein gesundes Ökosystem darzustellen; (iii) frei von Verschmutzung zu fließen; (iv) von Nebenflüssen gespeist zu werden; (v) auf authentische biologische Vielfalt; (vi) auf Wiederherstellung; (vii) auf Regeneration der natürlichen Kreisläufe; (viii) auf Erhaltung seiner ökologischen Struktur und Kreisläufe; (ix) auf Schutz, Bewahrung und Erholung; schließlich (x) vertreten zu werden (Urteil, S. 28).

Weiterhin entfaltet das Urteil seine Relevanz durch die Aufforderung des Gerichts, den „Interregionalen Rat für das Einzugsgebiet des Marañón-Flusses“ einzurichten, insbesondere durch die Verbindung mit der Anerkennung „von Staat und indigenen Organisationen“ als Vertretungsgremium für den Fluss. Ein Consejo de Cuenca ist nach peruanischem Recht ein Verwaltungsgremium von Wasserressourcen eines bestimmten Flusseinzugsgebiets (Cuenca), unter Einbindung der Zivilgesellschaft. Vor dem Hintergrund der spezifischen peruanischen Rechtslage, in welcher lediglich lokalen Comunidades Nativas private Rechte über Land zugestanden werden, ist das Urteil ein weiterer wesentlicher Schritt in Richtung einer Etablierung indigener Beteiligung. Das Urteil kann zur Initialzündung für die Ausbildung regionaler öffentlicher Institutionen mit indigener Beteiligung werden. Darüber hinaus kann festgestellt werden, dass in diesem Kontext das Volk der Kukama als regionale öffentliche Einheit anerkannt wird. Auch wenn deren Befugnisse formell auf Verwaltung von Wasserressourcen bezogen sind, kann sich daraus eine Art indigenes Co-Management einer ausgedehnten Tieflandregion entwickeln.

Wichtig zu betonen ist ein in den öffentlichen Reaktionen wenig beachtetes Detail, denn das Gericht hat ausdrücklich nicht die „Rechtssubjektivität“ des Flusses anerkannt, sondern schützt diesen als titular de derechos („Inhaber von Rechten“). Es ist fraglich, ob die Richterin die dogmatischen Unterschiede klar reflektiert hat oder ob angesichts des schwachen Umweltrechts in Peru der konzeptuelle Schritt zur Rechtspersönlichkeit eines Flusses vermieden werden sollte. Impliziert ist, dass der Fluss zwar Rechte hat, nicht aber die vollständige Rechtsfähigkeit einer juristischen Person genießt. Stattdessen wird er als Art „Schutzobjekt“ anerkannt, dessen Rechte aber, wie es in der Entscheidung wörtlich heißt, vom Gericht „geschützt“ werden müssen.

Der Schwachpunkt der Entscheidung betrifft die fehlenden konkreten Verpflichtungen Dritter, die sich parallel zur Anerkennung der Rechte des Flusses ergeben könnten: Das Gericht stellt fest, dass es den Klägern nicht gelungen ist, eine mangelhafte Überwachung und Wartung der Ölpipeline durch die beklagte Partei Petroperú nachzuweisen. Trotz des vordergründigen Erfolges bezüglich der Rechte der Natur-Komponente dieses Falles ist zu überlegen, ob dieser Sieg, mangels materieller Verpflichtungen einer Beklagtenseite, nicht auf einer symbolischen Ebene hängen bleibt. Denn auch gemäß den wichtigen Theoretikern H L A  Hart bis zu Leopold Pospišil, beinhaltet jeder Rechtsbegriff notwendigerweise eine mit ihm einhergehende Verpflichtung. Dies scheint allerdings in dem hiesigen Urteil nicht der Fall zu sein. Es muss deshalb die These in den Raum gestellt werden: Sind die im ersten peruanischen Urteil ausgesprochenen Rechte der Natur, ohne die Festlegung von damit einhergehenden konkreten Verpflichtungen, wirklich Recht? 

 

Danksagung: Der Autor bedankt sich herzlich bei Frau Janina Reimann, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel die ihn engagiert und kundig unterstützt hat, diesen Text in sein endgültiges fehlerfreies und stilistisch einwandfreies Format zu bringen.

Author
René Kuppe

René Kuppe is a retired law professor from the University of Vienna. In his academic work he has mainly dealt with the rights of Indigenous Peoples. René is also a Board Member of the International Work Group for Indigenous Affairs (IWGIA).

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