Deutschland im DämMerzustand?
Ein Völkerrechtlicher Blick auf den Koalitionsvertrag der 21. Legislaturperiode
Die Regierung der 21. Legislaturperiode, bestehend aus einer Koalition von CDU, CSU und SPD, wurde am 06.05. vereidigt und Friedrich Merz zum 10. Bundeskanzler gewählt. Die Besuche in Warschau, Paris und Kyjiw an den ersten Tagen seiner Amtszeit spiegeln die immensen außenpolitischen Herausforderungen wider, vor welchen diese Koalition jetzt steht. Doch welche völkerrechtlichen Verpflichtungen und Ziele, insbesondere in den Bereichen des Völkerstrafrechts, Wirtschaftsvölkerrechts und menschenrechtlichen Unternehmenspflichten hat sich diese neue Bundesregierung auf die Fahne bzw. in den Vertrag geschrieben?
Völkerstrafrecht
Eine ausdrückliche Erwähnung des Völkerrechts findet man zunächst im Abschnitt Recht (Z. 2761ff.). So nimmt sich die Koalition vor,
„ein starkes Zeichen für das Völkerrecht und gegen Aggression [zu] setzen, und die bestehende Zuständigkeitslücke zum Verbrechen der Aggression im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs [zu] schließen.“ (Z. 2896ff.)
Auf den ersten Blick mag dieses Vorhaben gerade vor dem Hintergrund der aktuell bestehenden Krise um den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) und insbesondere der Äußerungen von Ex-Kanzler Scholz und Bundeskanzler Merz zur Nicht-Durchsetzung des Haftbefehls gegen den israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu verwundern. Auch international steht der IStGH gerade in der Kritik: so ordnete US-Präsident Trump per Exekutivdekret verschiedene Sanktionen gegen das Gericht an. Die Forderung der Koalition greift aber ein seit langem bestehendes Problem um das Verbrechen der Aggression im Völkerrecht auf.
Das Verbrechen der Aggression nimmt eine Sonderrolle im Völkerstrafrecht ein. Während der Begriff der Aggression zwar von Anfang an in Art. 5 des Rom-Statuts zu finden war, bedurfte es darüber hinaus aufgrund der durch Art. 5 (2) aufgeschobenen Gerichtsbarkeit einer Definition des Verbrechens und der Bedingungen für ihre Ausübung. Ein Durchbruch erfolgte 2010 bei einer zu diesem Zweck einberufenen Konferenz in Kampala. Während in Art. 8bis des Rom-Statuts eine Definition des Verbrechens der Aggression und den dazugehörigen Handlungen geschaffen wurde, finden sich heute in den Art. 15bis und 15ter Vorschriften zur Zuständigkeit des IStGH über das Verbrechen. An die Schwächen dieser Vorschrift knüpft die Forderung der Koalition an.
Zunächst ist die Vorschrift durch ihre nachträgliche Einführung in ihrem Geltungsbereich beschränkt. Zwar müssen nur 30 Vertragsstaaten die Änderung ratifizieren, damit diese wirksam wird, jedoch erstreckt sich ihre Bindung nach mehrheitlicher Auffassung gem. Art. 121 (5) auch nur auf die ratifizierenden Staaten. Da derzeit nur 47 der insgesamt 125 Mitgliedsstaaten die Änderungen von Kampala ratifiziert haben, reduziert sich ihre Wirkung maßgeblich.
Darüber hinaus besteht ein Problem in der tatsächlichen Umsetzung der Zuständigkeit des IStGH. Im Wesentlichen gibt es drei Fallgruppen, in denen der IStGH die Zuständigkeit über das Verbrechen der Aggression besitzt. Diese sind jedoch von erheblichen Ausnahmen und damit einer geringen praktischen Relevanz geprägt. Zunächst ist die Verfolgung erstens durch Verweis eines Mitgliedstaates des Rom-Statuts nach Art. 15bis (1), 13 (a) oder zweitens durch den Chefankläger selbst im Rahmen des sog. proprio motu nach Art. 15bis (1), 13 (c), 15 möglich, kann jedoch durch Mitgliedsstaaten ausdrücklich nach Art. 15bis (4) abgelehnt werden. Die dritte Möglichkeit des Gerichts, seine Zuständigkeit über das Verbrechen der Aggression auszuüben, ist durch einen Verweis des UN-Sicherheitsrats nach Art. 15ter (1), 13 (b). Aufgrund der weiterhin bestehenden Blockade von permanenten Mitgliedern ist jedoch auch diese Variante wenig praktikabel. Für Nicht-Vertragsstaaten besteht darüber hinaus schon nach Art. 15bis (5) keine Zuständigkeit des IStGH (ausführlich dazu hier S. 8ff.) Die Zuständigkeit über die anderen Verbrechen, die in Art. 5 des Rom-Statuts aufgeführt sind, vollzieht sich regulär über die Art. 13-15, allerdings ohne die in Art. 15bis und Art. 15ter aufgeführten Ausnahmen. Der Weg zur Verfolgung anderer Verbrechen steht daher deutlich weiter offen als der zum Verbrechen der Aggression.
Das Ansinnen der Koalition zur Schließung der Zuständigkeitslücke ist begrüßenswert, da nur durch das öffentliche Bekenntnis zum IStGH, seinen Regeln und der völkerstrafrechtlichen Ordnung die Zuständigkeitshürden im multilateralen Dialog überwunden werden können. Sie bildet ein starkes Signal für andere Staaten, dass die deutsche Regierung an der Stärkung des IStGH bezüglich des Verbrechens der Aggression interessiert ist. Dies täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass realistische Lösungsansätze aktuell kaum erfolgsversprechend erscheinen. Vor diesem Hintergrund könnte die vom 7. bis 9. Juli 2025 in New York stattfindende Sondersitzung der IStGH-Vertragsstaaten zur Beurteilung der Änderungen von Kampala eine entscheidende Rolle spielen. Beispielsweise könnte Deutschland hier eine Harmonisierung von Art. 15bis (4), (5) mit den übrigen Zuständigkeitsregeln fordern. Es wird sich zeigen, ob die Koalition ihrem selbstgesetzten Ziel von Verantwortung gerecht wird, oder ob es bei einem bloßen Lippenbekenntnis bleibt.
Wirtschaftsvölkerrecht
Die Ambitionen der Koalition im Wirtschaftsvölkerrecht werden vor allem im Absatz Handel und Wirtschaft (Z. 257ff.) ausgeführt. Zum einen wird besonderer Wert auf die Ratifikation und den Abschluss verschiedenster internationaler Handels- und Investitionsabkommen gelegt. Zum anderen findet, wenn auch nur knapp, die Reform der Welthandelsorganisation (WHO) Anklang.
Rahmen-, Freihandels- und Investitionsabkommen
Die Koalition legt hier zum einen den Fokus auf die Ratifikation bereits geschlossener Abkommen, zum anderen aber auch auf den Abschluss von EU-Freihandelsverhandlungen mit Indien, Australien und den Staaten der „Association of Southeast Asian Nations“ (ASEAN), sowie “mittelfristig” (Z. 263) auch mit den USA.
Inwiefern sich die Sachlage zu den zuvor gescheiterten Verhandlungen geändert hat, ist jedoch fraglich. Gerade beim strittigen Thema der Landwirtschaft betont die Koalition die Bedeutung hoher Standards und setzt auf den Einsatz von sog. “Spiegelklauseln” (Z. 1397). Solche bezwecken eine Garantie, dass Importprodukte unter den gleichen Gesundheits-, Pflanzenschutz-, Tierschutz und Umweltstandards hergestellt werden, wie Produkte innerhalb der EU. Frankreich etwa weigert sich, das Mercosur-Abkommen zu ratifizieren, weil keine Spiegelklauseln enthalten sind. Während die bilaterale Vereinbarung solcher Klauseln eine Frage der politischen Übereinkunft bleibt, könnte eine unilaterale Auferlegung im Widerspruch zu WHO-Recht stehen. Eine zentrale Rolle spielt hier das Übereinkommen über technische Handelshemmnisse (TBT-Abkommen). Nach Art. 1.2 i.V.m. Annex 1 zum TBT-Abkommen ist eine technische Vorschrift “[e]in Dokument, das Merkmale eines Produkts oder die entsprechenden Verfahren und Produktionsmethoden (…) festlegt, deren Einhaltung zwingend vorgeschrieben ist.” Unilaterale Spiegelklauseln könnten somit in den Anwendungsbereich technischer Vorschriften fallen, welche gem. Art. 2.2 des TBT-Abkommens “nicht handelsbeschränkender als notwendig [sein dürfen], um ein berechtigtes Ziel zu erreichen”. Als solche Ziele gelten unter anderem der Gesundheits- und Umweltschutz. Der Rechtsstreit US-Shrimp (Rn. 164, 172) im WHO-Streitbeilegungssystem brachte jedoch eine weitere Anforderung an unilaterale Spiegelklauseln hervor. Das Berufungsorgan urteilte, dass es nicht akzeptabel sei, die Nutzung eines im Ursprungsland identischen Regulierungsprogramms zu forcieren, ohne dabei besondere Bedingungen in anderen Ländern zu berücksichtigen. Insbesondere der unilaterale Charakter verstärke hier eine diskriminierende Wirkung. Im Einklang mit Art. 2.7 des TBT-Abkommens ist damit davon auszugehen, dass unilaterale Spiegelklauseln, die allein einzelne konkrete Verfahrens- und Produktionsmethoden zulassen, auch auf Widerstand im Rahmen des WHO-Streitbeilegungssystems stoßen werden. Das pauschale Bekenntnis der Koalition steht also unter dem Druck, rechtliche Rahmenbedingungen einzuhalten.
Die WHO-Reform
Darüber hinaus betont die Koalition knapp ihren Einsatz für den Erhalt des WHO-Systems und spricht von der Notwendigkeit von Reformen mit Blick auf die Regeln für Industriesubventionen. Auch wenn die Koalition über die Ausformulierung konkreter Änderungsvorschläge des WHO-Subventionsübereinkommens schweigt, so ist es dennoch begrüßenswert, dass sie gerade in Anbetracht möglicher irregulärer Förderung durch China diesen Aspekt in den Vordergrund stellt. Zu diskutierende Ansätze könnten beispielsweise zum einen in der Legaldefinition des Begriffes der “öffentlichen Körperschaft” (engl.: “public body”) liegen, sodass auch Staatsunternehmen in diese Kategorie fallen, zum anderen könnte eine Beweislastumkehr zu Gunsten des Antragstellers für schwerwiegende Verstöße gegen das Subventionsabkommen eingeführt werden, wonach die Streitbeilegung effektiver gewährleistet werden könnte.
Aussagen zur Reform des WHO-Streitbeilegungssystems oder ein Bekenntnis zur Übergangslösung durch das “Multi-Party Interim Appeal Arbitration Arrangement” lässt der Vertrag vermissen.
Menschenrechte und Lieferkettengesetz
Die Koalition hat im Bereich von Menschenrechten und Unternehmen besonderes Aufsehen durch die Forderung der Abschaffung des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) erregt (Z. 1909). Das Gesetz, seit letztem Jahr durch die europäischen Richtlinien Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) und die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) flankiert, stellt durch den Schutz von Menschenrechten entlang der Lieferketten und mit Haftungs- und Berichtspflichten einen Meilenstein im Bereich Unternehmen und Menschenrechte dar. In seiner Beschreibung als “Bürokratiemonster” steht es jedoch auch in der Kritik.
Die Koalition möchte das LkSG nicht abschaffen, sondern durch das “Gesetz zur internationalen Unternehmensverantwortung” ersetzen. Die vollständige Abschaffung der Berichtspflichten (Z. 1910ff.) wird sie jedoch kaum versprechen können, da vergleichbare Pflichten in Art. 16 CSDDD und Art. 19a CSRD für die nationale Gesetzgebung vorgegeben sind.
Ohnehin wird sich Deutschland mit dem Verschlechterungsverbot in der CSDDD befassen müssen. Art. 1 (2) legt fest, dass “diese Richtlinie nicht als Rechtfertigung für eine Senkung des in den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten (…) vorgesehenen Niveaus des Schutzes der Menschenrechte, Beschäftigungs- und sozialen Rechte oder des Umwelt- oder Klimaschutzes dienen [darf]”. Deutschland könnte dementsprechend daran gebunden sein, am hohen Standard, der im LkSG gesetzt wurde, festzuhalten. Das könnte sowohl den menschenrechtlichen als auch den bürokratischen Standard mitsamt Berichtspflichten betreffen. Schon die partielle Abschwächung zum Anwendungsbereich und des weiteren Unternehmensbegriffs des LkSG im letzten Jahr warf dieses Problem auf.
Eine potenzielle Senkung des menschenrechtlichen Standards im LkSG dürfte damit schon aufgrund des deutlichen Wortlauts, der ausdrücklich von “vorgesehenen Niveaus des Schutzes der Menschenrechte” spricht, nicht möglich sein. Anders verhält es sich zu den Berichtspflichten im LkSG. Einen ausdrücklichen Verweis auf die Berichtspflichten sucht man in Art. 1 (2) CSDDD vergeblich, und das trotz des Umstandes, dass auch die CSDDD-Richtlinie Berichtspflichten in Art. 16 enthält. Zwischen den Berichtspflichten und dem Schutzniveau für Menschenrechte müsste also eine Verbindung bestehen und das Entfallen der Berichtspflichten für Unternehmen müsste zumindest mittelbar auch zu einer Absenkung des Niveaus des Menschenrechtsschutzes führen. Trotz des deutlichen Wortlautes könnte für einen solchen Zusammenhang der Zweck der Berichtspflichten sprechen. Dieser liegt schließlich darin, die Einhaltung des Standards der Menschenrechte in Unternehmen nachvollziehen und auf diese Weise den Standard wahren zu können. Lediglich der Nachweis eines solchen Zusammenhangs zwischen fehlenden Berichten und menschenrechtlichem Standard könnte sich in der Praxis als schwer herausstellen. Eine weitere Fragestellung wird sein, was unter dem Begriff der Rechtfertigung zu verstehen ist. Die Richtlinie stellt lediglich klar, dass eine Absenkung des menschenrechtlichen Schutzniveaus nicht mit Verweis auf das niedrigere Niveau der CSDDD-Richtlinie begründet werden darf. Könnte Deutschland also das Schutzniveau absenken, indem es schlicht auf einen solchen Verweis verzichtet oder einen ganz anderen Grund angibt, etwa die dramatische wirtschaftliche Lage – und so das Verbot faktisch umgehen? Außerdem wird sich das Problem der gerichtlichen Überprüfbarkeit stellen. Wird es hier auf den EuGH ankommen oder werden sich deutsche Gerichte einschalten? Im Ergebnis werden sich der neuen Koalition also auch rechtliche Hindernisse stellen.
Fazit
Der Koalitionsvertrag der 21. Legislaturperiode ist weder eine Abkehr Deutschlands von der völkerrechtlichen Ordnung noch ein ambitioniertes Bekenntnis zu seiner Weiterentwicklung. Gerade im Bereich des Völkerstrafrechts fehlt es trotz der symbolisch begrüßenswerten Forderung an praktikablen Lösungsvorschlägen für bestehende strukturelle Defizite und an einem starken Bekenntnis zum IStGH. Auch die wirtschaftlichen Ambitionen bauen auf vorherigen Entwicklungen auf und sind im Rahmen der Spiegelklauseln selbst in der EU noch strittig. Ebenso fehlt es der Forderung zur Reform der WHO an konkreten Vorschlägen und einer klaren Strategie zur Zukunft des Streitbeilegungssystems. Im Bereich der Menschenrechte geht Deutschland mit unkonkreten und geringfügigen Forderungen sowie der geplanten Abschaffung des LkSG einen besorgniserregenden Weg.
The “Bofaxe” series appears as part of a collaboration between the IFHV and Völkerrechtsblog.

Niklas von Estorff is a PhD student and Research Associate at Ruhr-University Bochum´s Center for International Affairs.