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Der „Turn to Principles“ im Völkerrecht

Theoretische und methodische Perspektiven auf die Zukunft von Völkerrecht und Völkerrechtswissenschaft

26.05.2014

Prinzipien sind gewissermaßen die Wundertüten der Rechtswissenschaft. Sie inkorporieren Werte in den Bereich des Rechts, bilden das normative Fundament rechtlicher Regeln und ermöglichen es so, die Rechtsordnung als ein System zu verstehen, dessen Bestandteile eine gemeinsame Prinzipiengrundlage vereint; sie sind offen für Konkretisierungen, stehen in keinem festen Rangverhältnis, und doch umgibt sie die Aura besonderer Wichtigkeit. Im Völkerrecht erleben sie seit einigen Jahren eine Renaissance. Das wirft schwierige theoretische und methodische Fragen auf und hat nicht zuletzt institutionelle Konsequenzen. Das alles wird das Völkerrecht in den kommenden Jahren prägen und wird – jedenfalls aber: sollte – auch in der Völkerrechtswissenschaft verstärkt Beachtung finden.

Die Konstitutionalisierung des Völkerrechts und der „Turn to Principles“

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Völkerrechtsordnung zu einer veritablen Wertordnung entwickelt, in deren Vokabular längst auch die Stichworte Menschenrechts- und Umweltschutz, Demokratie, Solidarität und rule of law nicht mehr fehlen. Angetrieben von dem Interesse, diesen Wertewandel des Völkerrechts systematisch zu erfassen und der neu gewonnenen Wertorientierung in der Sprache des Völkerrechts Ausdruck zu verleihen, hat die Völkerrechtswissenschaft das Rechtsprinzip als Normkategorie für sich entdeckt. Vermehrt fragt sie nach Demokratie, rule of law und Menschenrechtsschutz als (Verfassungs-)Prinzipien des geltenden Völkerrechts, und zunehmend wird sie fündig. Die Ausübung von Hoheitsgewalt innerhalb, aber auch jenseits des Staates, bindet das an neue – ja in konstitutionalistischer Lesart verfassungstypische – Rechtfertigungsanforderungen.

Jedenfalls im Ansatz ist diese Idee auch der Rechtsprechung nicht fremd: Nicht nur der Internationale Gerichtshof (IGH) sympathisiert mit der Berufung auf die „well recognized principles, namely: elementary considerations of humanity“ offen mit einem internationalen Humanitätsprinzip. Auch der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (JStGH) stellt rule of law, Staatensouveränität, Menschenrechte und Effektivität der Völkerstrafgerichtsbarkeit in ein „balancing exercise“ ein, das jene als Rechtsprinzipien konzipiert. Und schließlich hat mit dem Grundsatz nachhaltiger Entwicklung ein „emerging principle“ Eingang in die Rechtsprechung gefunden, das auch der Bewahrung der Umwelt zu rechtlicher Bedeutung verhilft.

Für die Rechtsprechung erfüllen diese Prinzipien vor allem zwei Funktionen: Wo spezifische Regeln fehlen, ermöglichen sie es, eine Entscheidung zu treffen; wo Regeln bestehen, dienen sie als Argumente für eine dynamische Auslegung, die ältere Regeln den gewandelten Wertgrundlagen des Völkerrechts anpasst.

Rechts(quellen)theoretische Verschiebungen: Naturrecht oder allgemeine Rechtsgrundsätze

In rechtstheoretischer Hinsicht kommt damit die Debatte über das Wesen von Prinzipien und deren Abgrenzung von Normen mit Regelcharakter nun auch im Völkerrecht an. Prinzipien, so nimmt etwa der IGH an, unterschieden sich von Regeln allein durch ihren „more general and more fundamental character“. Das Schrifttum hingegen bemüht sich teilweise um Differenzierungen, spricht Prinzipien aber überwiegend eine Dimension des Gewichts (Dworkin) zu oder versteht sie als Optimierungsgebote (Alexy), die anders als Regeln abwägungsfähig und im Konfliktfall auch -bedürftig sind. Wer sich die Anfänge dieser Diskussion in der Hart-Dworkin-Debatte vor Augen führt, dem wird schnell klar, dass die verstärkte Integration solcher Rechtsprinzipien das Potential besitzt, die Frage nach Naturrecht oder Rechtspositivismus im Völkerrecht neu aufzubrechen. Denn die Rechtsprechung gibt auf die Frage nach dem Ursprung der bemühten Prinzipien meist keine zufriedenstellende Antwort. Doch will sie nicht auf sie verzichten, so muss sie deren Rechtscharakter durch die Zuordnung zu einer der Völkerrechtsquellen nachweisen oder sich offen zu einer naturrechtlichen Position bekennen und deren Geltung zumindest philosophisch begründen. Der zunehmende Rekurs auf die besagten Rechtsprinzipien wird den exakten Verlauf der Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht im Völkerrecht daher künftig wieder diskussionswürdig erscheinen lassen (siehe bereits hier und hier) und die völkerrechtliche Rechtsquellenlehre erneut in den Fokus rücken. Doch völkervertragliche Bekenntnisse zu den skizzierten Prinzipien sind selten und der Nachweis entsprechenden Gewohnheitsrechts begegnet der Schwierigkeit, dass sich Prinzipien, deren Gehalt weniger im Ge- oder Verbot eines bestimmten Verhaltens als vielmehr in der Inkorporation abstrakter Werte besteht, durch konkretes Staatenverhalten kaum beschreiben lassen. Stärker als bisher dürften daher künftig die „general principles of law“ (Art. 38 (1) (c) IGH-Statut) die rechtsquellentheoretische Debatte bestimmen und auch in der Völkerrechtspraxis wird ihre Bedeutung zunehmen. In der aktuellen Forschung deutet sich ein entsprechender Trend bereits an. Setzt er sich fort, wird künftig erstens der Austausch zwischen Völkerrecht und Verfassungsvergleichung wichtiger werden und sich zweitens auch die Legitimationsfrage neu stellen. Denn vermag der im Falle allgemeiner Rechtsgrundsätze ohnehin vielfach für schwach gehaltene staatliche Konsens die Bindung an diese auch dann noch zu legitimieren, wenn deren Bedeutung zunimmt und mit dem Aufkeimen der demokratischen Idee jenseits des Staates zudem die legitimatorischen Anforderungen steigen?

Methodische Verschiebungen: Abwägung und Rechtsfortbildung

Methodisch sind Prinzipien auf Abwägungen angewiesen. Anhand des relativen Gewichts und aufgrund der Intensität der jeweiligen Betroffenheit bestimmen diese, welches der konkurrierenden Prinzipien im konkreten Fall den Vorrang genießt. Erst in jüngerer Zeit jedoch hat die völkerrechtswissenschaftliche Methodendiskussion begonnen, sich für solche Abwägungsprozesse zu interessieren. Stattdessen konzentriert sie sich bislang vor allem auf Fragen völkerrechtlicher Vertragsauslegung. Die Fokussierung auf völkerrechtliche Prinzipien gibt daher Anlass, die – in der deutschen Völkerrechtswissenschaft leise gewordene – Methodendiskussion wiederzubeleben und deren Schwerpunkt weg von Fragen der Vertragsauslegung und hin zu völkerrechtlichen Abwägungsprozessen und den Methoden gerichtlicher Völkerrechtsfortbildungen zu verschieben. Mit dem Verweis auf ein „konstruktives Völkerrecht“ (Herdegen) ist das erste Stichwort hierfür bereits gegeben. Doch noch bestehen zahlreiche Unsicherheiten, die sich zuweilen auch in der Rechtsprechung niederschlagen. So befand etwa der italienische Kassationshof, in die Regeln der Staatenimmunität sei eine menschenrechtliche Ausnahme einzufügen, denn die zugrunde liegende Antinomie der beiden Prinzipien Souveränität und Menschenrechtsschutz sei aufgrund des höheren Wertes des letzteren zu dessen Gunsten aufzulösen. Das englische House of Lords hingegen erteilte dieser prinzipienbasierten Rechtsfortbildung durch Lord Hoffmann eine schroffe Absage. Zwar sei diese Methode im nationalen Recht vertraut, doch

“the same approach cannot be adopted in international law, which is based upon the common consent of nations. It is not for a national court to “develop” international law by unilaterally adopting a version of that law which, however desirable, forward-looking and reflective of values it may be, is simply not accepted by other states.”

Und so bleibt es der künftigen Völkerrechtspraxis und –wissenschaft vorbehalten, die methodischen Grenzen auszuloten, die dem Versuch gesetzt sind, ältere Völkerrechtsregeln durch Auslegung und Rechtsfortbildung mit den in völkerrechtlichen Prinzipien verkörperten Wertungen der aktuellen Völkerrechtsordnung zu harmonisieren.

Institutionelle Verschiebungen: „Vergerichtlichung“

Für internationale Gerichte ist die Berufung auf Prinzipien unter anderem deshalb attraktiv. Mit dem Potential völkerrechtlicher Prinzipien, die Auslegung bestehender Regeln zu dynamisieren wachsen gerichtliche Entscheidungsspielräume und richterliche Verantwortung. Auch erweitert die inhaltliche Reichweite der fraglichen Prinzipien den gerichtlichen Einflussbereich über den Bereich der eigenen Kernkompetenz hinaus: Die Streitbeilegungsinstanzen der WTO beeinflussen nun auch Fragen des Umweltrechts, der Internationale Seegerichtshof lässt sich zu humanitären Fragen ein. Angesichts dieser Perspektiven kann der Prinzipienansatz auf eine wohlwollende Aufnahme durch internationale Gerichte hoffen und die in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende Zunahme internationaler Streitbeilegungsinstanzen dürfte den Prinzipienansatz folglich befördern.

Umgekehrt wird die Bedeutung (quasi-)gerichtlicher Streitbeilegungsinstanzen jedoch gerade durch das Aufkommen völkerrechtlicher Prinzipien zunehmen. Denn das Ergebnis einer jeden Abwägung wird von zwei Größen beeinflusst, die schwer zu skalieren und in hohem Maße wertungsabhängig sind: das relative Gewicht der kollidierenden Prinzipien einerseits und die Intensität deren Betroffenheit andererseits. Die Abwägung kollidierender Prinzipien bietet daher in noch größerem Maße als die völkerrechtliche Regelauslegung Raum für divergierende Begründungen des rechtlich Gebotenen. Mehr noch als diese ist jene daher auf autoritative Normkonkretisierungen angewiesen. Doch wo nicht bereits eine von den Staaten vereinbarte Regel die kollidierenden Prinzipien einem rechtsverbindlichen Ausgleich zuführt, bleibt es letztlich an den Gerichten, dieses Bedürfnis zu erfüllen. Auf ihre Fähigkeiten, Abwägungsvorgänge nachvollziehbar zu strukturieren und die dabei verwendeten Wertungen offenzulegen, wird es deshalb künftig entscheidend ankommen; nicht nur um konkrete Rechtsstreitigkeiten wirksam zu schlichten, sondern auch und vor allem um trotz der durch völkerrechtliche Prinzipien drohenden Flexibilisierung völkerrechtlicher Regeln eine konsistente und vorhersehbare Anwendung völkerrechtlicher Normen sicherzustellen und so die verhaltenssteuernde Wirkung des Völkerrechts zu bewahren. Nur wenn das gelingt, wird sich der Inhalt der Wundertüte „Rechtsprinzip“ für das Völkerrecht nicht als böse Überraschung entlarven.

 

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Jochen Rauber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Internationales Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie der Universität Heidelberg und derzeit Kurzeitstipendiat am DFG-Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staates“ an der Humboldt-Universität Berlin.

 

Cite as: Jochen Rauber, “Der “Turn to Principles” im Völkerrecht: Theoretische und methodische Perspektiven auf die Zukunft von Völkerrecht und Völkerrechtswissenschaft”, Völkerrechtsblog, 26 May 2014, doi: 10.17176/20170104-162245.

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Jochen Rauber
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