Zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht in der Schweiz
Status quo und aktuelle Diskussionslinien
In der Schweiz wird in jüngerer Zeit das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht nicht nur in der juristischen Fachliteratur, sondern auch in der Öffentlichkeit, insbesondere in den Printmedien, diskutiert. Hintergrund hierfür dürften einerseits die sich im Anschluss an eine Reihe von völkerrechtlich problematischen Volksinitiativen ergebenden Probleme und andererseits ein neueres Urteil des Bundesgerichts sein, welches vom grundsätzlichen Vorrang von Völkerrecht auch vor der Verfassung ausgeht. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach dem Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht, aber auch diejenige nach den Bindungswirkungen der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Aber auch in anderen Bereichen besteht mitunter ein gewisses Konfliktpotential, so insbesondere im Zusammenhang mit dem Freizügigkeitsabkommen Schweiz – EU. Gleichzeitig ist nicht zu verkennen, dass sich die Thematik auch aus der Sicht gewisser politischer Kreise zur Erhöhung der Popularität und damit auch als (verkapptes) Wahlkampfthema eignet, wird doch in diesem Zusammenhang immer wieder die durch das Völkerrecht (scheinbar) beeinträchtigte schweizerische Souveränität und die Achtung des Volkswillens bemüht. Einen vorläufigen Höhepunkt haben die diesbezüglichen Diskussionen mit der angekündigten Lancierung einer Volksinitiative mit dem Titel „Schweizer Recht geht fremdem Recht vor“ erreicht, die ausdrücklich den Vorrang der Verfassung vor dem Völkerrecht (mit Ausnahme des zwingenden Völkerrechts) verankern will und das Anwendungsgebot von Völkerrecht auf völkerrechtliche Verträge, deren Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterworfen war, beschränken will.
Ausgangslage
Das Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht – sowohl Gesetzesrecht als auch Verfassungsrecht – gilt in der schweizerischen Rechtslehre seit geraumer Zeit als eine der zentralen nicht abschließend geklärten Fragen. Dies hängt damit zusammen, dass weder der aus dem Jahr 1874 stammenden Verfassung noch der neuen Bundesverfassung aus dem Jahr 1999 (BV) diesbezüglich klare Aussagen zu entnehmen sind, wobei immerhin zu bemerken ist, dass in der geltenden Verfassung die Pflicht von Bund und Kantonen, das Völkerrecht zu „beachten“, ausdrücklich festgeschrieben wurde (Art. 5 Abs. 4 BV). Die „Rangfrage“ sollte damit jedoch nicht geklärt werden; vielmehr sollte diese – wie schon vor Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung – durch die Praxis beantwortet werden.
Die Frage nach dem Verhältnis von Völker- und innerstaatlichem Recht wurde dann auch immer wieder aufgeworfen, wobei sie durch das Bundesgericht inzwischen einer pragmatischen und durchaus sinnvollen und grundsätzlich allgemein akzeptierten Lösung zugeführt wurde. Die wesentlichen Grundsätze lassen sich auf der Grundlage der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wie folgt zusammenfassen:
In Bezug auf das Verhältnis von Bundesgesetzen und Völkerrecht gilt folgendes:
- Dem Völkerrecht kommt im Verhältnis zu Bundesgesetzen grundsätzlich Vorrang zu, der sich auch auf spätere Bundesgesetze bezieht.
- Hiervon ist jedoch dann ausnahmsweise abzuweichen, wenn der Bundesgesetzgeber „bewusst“ gegen das Völkerrecht verstoßen wollte; diesfalls sind das Bundesgericht und die rechtsanwendenden Behörden an das völkerrechtswidrige Bundesgesetz gebunden (sog. Schubert-Rechtsprechung).
- Im Verhältnis von Bundesgesetzen und staatsvertraglich gewährleisteten Menschenrechtsverträgen gilt aber eine „Gegenausnahme“, so dass letztere in jedem Fall vorrangig (auch im Verhältnis zu „bewusst“ gegen ihre Vorgaben verstoßenden Bundesgesetzen) anzuwenden sind.
- Soweit es um Konflikte zwischen Völkerrecht und (späterem) Verfassungsrecht geht, ist Art. 190 BV maßgeblich: Danach ist das Völkerrecht (neben den Bundesgesetzen) „maßgebend“, so dass im Falle eines Konflikts dieses anzuwenden ist und die entsprechende Verfassungsbestimmung unanwendbar ist. Zwar wird dieser vom Bundesgericht vertretene Ansatz in der Lehre und vom Bundesrat teilweise kritisiert; zu überzeugen vermag diese Kritik jedoch nicht: Denn Art. 190 BV regelt grundsätzlich die Frage, wie im Falle eines Konflikts zwischen Völkerrecht und Verfassung umzugehen ist, so dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass jede punktuelle Verfassungsrevision – die eine bestimmte Sachfrage betrifft – auch die Tragweite dieser Bestimmung modifiziert. In der Sache kommt damit völkerrechtlichen Verträgen ein umfassender (Anwendungs-) Vorrang vor widersprechenden Verfassungsbestimmungen zu, was auch in Bezug auf spätere Verfassungsbestimmungen gilt. Die „Schubert“-Praxis kommt damit in Bezug auf Verfassungsrecht nicht zum Zuge.
Aktuelle Problemstellungen
In jüngerer Zeit haben sich Volksinitiativen (diese können von 100‘000 Stimmberechtigten vorgelegt werden, woraufhin eine Abstimmung erfolgt, die im Falle einer Mehrheit von Volk und Ständen zur Einführung der entsprechenden Bestimmung in die Verfassung führt) gemehrt, die mit grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien, mit Grundrechten oder / und mit völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz zumindest in einem gewissen Spannungsverhältnis stehen. Derartige Initiativen – bzw. die entsprechenden Verfassungsartikel – werfen verschiedene Probleme auf:
- Soweit durch eine Volksinitiative eine völkerrechtswidrige Verfassungsbestimmung eingeführt wird (was möglich ist, da es abgesehen vom zwingenden Völkerrecht keine eigentlichen materiellen Schranken des Initiativrechts gibt), kann diese – zumindest soweit noch keine Umsetzungsgesetzgebung existiert – wegen Art. 190 BV nicht angewandt werden. Dies ist aus demokratiepolitischer Sicht nicht befriedigend, wobei diesbezügliche Vorschläge zur Änderung dieser Situation (etwa über eine Erweiterung der materiellen Schranken für Volksinitiativen) bislang nicht von Erfolg gekrönt waren.
- In der Verfassung selbst kommt es zu gewissen Unstimmigkeiten, die nicht immer befriedigend auf dem Weg der Auslegung (Stichwort „praktische Konkordanz“) gelöst werden können.
- Völkerrechtliche Verpflichtungen – auch solche grundlegender Art (sei dies nun aus rechtlicher oder politischer Sicht) – werden zunehmend in Frage gestellt.
Immerhin ist aber festzuhalten, dass die Rechtslage in Bezug auf das Verhältnis Völkerrecht – Landesrecht aus rechtlicher Sicht wie erwähnt mittlerweile verhältnismäßig klar ist; die Rechtsprechung des Bundesgerichts wendet die diesbezüglichen Prinzipien überzeugend an, und auch die (mitunter viel kritisierte) jüngste Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 139 I 16) stellt letztlich eine Bestätigung der langjährigen Praxis dar.
Zur möglichen Verankerung eines „Vorrangs des Landesrechts“
Allerdings bleibt es dem Gesetzes- und Verfassungsgeber unbenommen, die hier skizzierten Grundsätze zu ändern, wobei in Bezug auf die Frage nach dem Vorrang des Völkerrechts zwischen zwei grundsätzlich denkbaren „Kategorien“ von Modifikationen der Verfassung unterschieden werden kann:
- Einerseits ist es denkbar, dass eine neue Verfassungsbestimmung selbst ausdrücklich vorsieht, sie gehe Völkerrecht (abgesehen vom zwingenden Völkerrecht) vor, wie dies bei der sog. Durchsetzungsinitiative zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative (nunmehr Art. 121 Abs. 3-6 der Verfassung) der Fall ist. Diese formuliert u.a. ausdrücklich, dass die neuen Bestimmungen dem nicht zwingenden Völkerrecht (wozu auch Art. 8 EMRK gehört) vorgehen, und das zwingende Völkerrecht wird auch gleich definiert (hierzu sollen ausschließlich das Folterverbot, das Verbot des Völkermords und der Sklaverei sowie das Non-refoulement-Gebot gehören).
- Andererseits könnte auch eine neue Verfassungsbestimmung eingeführt werden, die allgemein schweizerischem Recht (bzw. bestimmten Teilen desselben, so Verfassungsrecht und / oder Bundesgesetzen) einen (Anwendungs-) Vorrang im Verhältnis zu entgegenstehendem Völkerrecht einräumt. Genau dies ist Gegenstand der eingangs erwähnten geplanten Volksinitiative („Schweizer Recht geht fremdem Recht vor“).
Es ist im vorliegenden Rahmen nicht möglich, sozusagen abstrakt die ggf. aus solchen neuen Verfassungsbestimmungen folgenden genauen Modifikationen der Rechtslage zu eruieren, kommt es hier doch auch auf die genauen Formulierungen im Einzelnen an. Allgemein kann aber festgehalten werden, dass die Verfassung juristisch als Einheit anzusehen ist, die jedoch nicht aus „einem Guss“ entstanden, sondern historisch gewachsen ist, so dass die einzelnen Bestimmungen nicht immer aufeinander abgestimmt sind; ein irgendwie geartetes Hierarchieverhältnis der Verfassungsbestimmungen untereinander besteht jedoch grundsätzlich nicht (siehe hierzu BGE 139 I 16 E. 4.2.1). Weiter gibt es aus rechtlicher Sicht grundsätzlich keine „klaren“ Vorschriften, sondern jede Rechtsanwendung ist immer ein Prozess der (mehr oder weniger schwierigen) Auslegung. Deutlich wird damit, dass die Auslegung der Verfassung im Allgemeinen und insbesondere auch von Volksinitiativen, die Eingang in die Verfassung gefunden haben, komplex ist und sich jede „einfache“ Lösung grundsätzlich verbietet, so dass es den skizzierten Grundsätzen insbesondere nicht Rechnung trüge, die Tragweite einer durch Volksinitiative zustande gekommenen Verfassungsbestimmung ausschließlich oder auch nur schwergewichtig in Anlehnung an den Willen der Initianten zu bestimmen.
Soweit das Ansinnen zur Debatte steht, über eine Verfassungsmodifikation ganz allgemein den Vorrang des schweizerischen Rechts (zumindest von Bundesgesetzen und / oder der Verfassung) im Verhältnis zum Völkerrecht festzuschreiben, ist zu betonen, dass auf diese Weise einerseits zentrale Garantien der prozeduralen Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt würden, andererseits aber auch – indem menschenrechtliche Garantien (allenfalls abgesehen vom zwingenden Völkerrecht) auf der Grundlage dieses Ansinnens ebenfalls gegenüber Landesrecht zurücktreten müssten – materielle Aspekte der Rechtsstaatlichkeit zur Disposition gestellt werden sollen: Denn es gehört zu den Grundfesten des Rechtsstaates, dass auch „gegen“ Mehrheitsentscheidungen gewisse Grund- und Menschenrechte zu garantieren sind, und die Teilnahme der Schweiz an der Europäischen Menschenrechtskonvention ist Ausdruck davon, dieser Überzeugung eines liberalen Staats- und Rechtsverständnisses, in dessen Rahmen ein Ausgleich zwischen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu finden ist, Rechnung tragen zu wollen. Soweit die erwähnte geplante Volksinitiative betroffen ist, führte diese nach dem gegenwärtigen Stand dazu, dass das Bundesgericht die EMRK nicht mehr auf der Grundlage des Art. 190 BV anzuwenden hätte, da sich diese Bestimmung nur noch auf solche völkerrechtlichen Verträge beziehen soll, deren parlamentarischer Genehmigungsbeschluss dem Referendum unterstand, was bei der EMRK aufgrund der 1974 geltenden Rechtslage nicht der Fall war.
Deutlich werden damit die potentiell sehr weitgehenden Implikationen der Annahme einer solchen Initiative, wenn auch ihre exakte rechtliche Tragweite zweifellos noch zu präzisieren wäre, was angesichts ihres Konfliktpotentials mit zentralen rechtsstaatlichen Errungenschaften und diversen anderen Verfassungsbestimmungen durchaus schwierig sein könnte. Jedenfalls zu kurz griffe es darauf hinzuweisen, dass völkerrechtliche Verträge in zahlreichen Staaten im Rang unter der Verfassung stehen und die angestrebte „absolute“ Vorrangstellung der Verfassung somit im internationalen Vergleich nichts Außergewöhnliches sei: Denn in der Schweiz ist es aufgrund des Instruments der Verfassungsinitiative möglich, jedwelche Regelung auf Verfassungsstufe zu verankern, so dass Konflikte mit völkerrechtlichen Vorgaben – auch und gerade solchen menschenrechtlichen Charakters – nicht nur denkbar sind, sondern sich – gerade in letzter Zeit – durchaus auch realisieren.
Eine Annahme der Verfassungsinitiative „Schweizer Recht geht fremdem Recht vor“ führte somit zu beachtlichen Problemen, wäre doch innerstaatlich nicht mehr sichergestellt, dass das Völkerrecht beachtet wird. Zwar implizierte dieser Umstand als solcher (noch) keinen Verstoß gegen völkerrechtliche Verpflichtungen, sondern die Nichtbeachtung derselben müsste sich „materialisieren“ (verlangt das Völkerrecht doch als solches im innerstaatlichen Recht keine Verankerung seines Vorrangs vor dem Landesrecht). Auch wäre – wie erwähnt – die genaue rechtliche Tragweite der neuen Verfassungsbestimmungen noch im Einzelnen zu analysieren. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass die Initiative über die Ergänzung und Modifikation zentraler, das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht betreffender Bestimmungen (Art. 5 Abs. 4, 190 BV) die derzeitige Rechtslage wohl grundlegend ändern würde und zumindest die Gefahr mit sich brächte, dass jegliche völkerrechtlichen Verpflichtungen (mit Ausnahme des zwingenden Völkerrechts) durch eine (ggf. später in Kraft tretende) anderslautende Verfassungsbestimmung in Frage gestellt würden. Dass dies nicht nur der Rechtssicherheit in höchstem Maß abträglich wäre und auch die Rechtsstellung Einzelner ggf. empfindlich beeinträchtigen könnte, sondern darüber hinaus die Glaubwürdigkeit der Schweiz auf internationaler Ebene in Frage stellte, ist offensichtlich. Ein solcher Ansatz stellte darüber hinaus eine grundsätzliche Absage an jegliches international koordiniertes und verbindlich vereinbartes Vorgehen dar, was weder den Interessen der Schweiz noch den sich stellenden Fragen und Problemen gerecht würde. Es wäre daher sinnvoller, allfällige Probleme mit gewissen völkerrechtlichen Verpflichtungen auf die im Völkerrecht selbst vorgesehene Art und Weise anzugehen. Zu hoffen bleibt vor diesem Hintergrund nur, dass der erwähnten Initiative kein Erfolg beschieden sein wird.
Im Übrigen bleibt die Feststellung, dass der Umstand, dass durch letztlich immer isolierte und kaum in einem Gesamtzusammenhang diskutierte Volksinitiativen Grundfeste des in der Verfassung zum Ausdruck kommenden demokratischen Rechtsstaates in Frage oder gar zur Disposition gestellt werden sollen, wenig befriedigend ist, insbesondere wenn man bedenkt, dass eigentliche materielle Konflikte Seltenheitswert haben und kaum wirklich wichtige gesellschaftliche Probleme betreffen. Es ist zu wünschen, dass diese grundlegenden Aspekte in der Diskussion um das Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht vermehrt Beachtung finden. Dies könnte dann möglicherweise zu der Einsicht führen, dass ein Initiativrecht des Volkes, das kaum nennenswerten materiell-rechtlichen Schranken unterliegt, nur dann auf Dauer aufrecht erhalten werden kann, wenn die relevanten politischen Kräfte in der Schweiz es nicht für Wahlkampfzwecke „missbrauchen“ und die in diesem Beitrag dargelegten Interdependenzen zwischen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in ausreichender Weise berücksichtigen.
Eine Replik zu diesem Beitrag findet sich hier.
Astrid Epiney ist Professorin für Europarecht, Völkerrecht und öffentliches Recht an der Universität Fribourg. Die hier vorgestellten Überlegungen finden sich als ausführliche Erörterung im Jusletter v. 16.12.2013.
Alle Beiträge des Symposiums erscheinen auch auf dem Verfassungsblog.
Cite as: Astrid Epiney, “Zum Verhältnis von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht in der Schweiz ”, Völkerrechtsblog, 9 December 2014, doi: 10.17176/20170125-143406.