Hört erst beim Geld die Freundschaft auf?
Zur Neujustierung des Völkervertragsrechts in der deutschen Rechtsordnung
Die Einbeziehung von Völkervertragsrecht in die deutsche Rechtsordnung läuft seit Jahren routiniert. Ein völkerrechtlicher Vertrag wird durch ein Bundesgesetz, das so genannte Vertragsgesetz, in die deutsche Rechtsordnung geholt und gilt dann, so die herrschende Meinung, auf der Ebene des einfachen Bundesrechts. Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz ist, so scheint es, bis in alle Einzelheiten ausgelegt.
Menschenrechtliche Verträge in der deutschen Rechtsordnung
Bewegung in die Sache hat vor zehn Jahren die Görgülü-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gebracht, wonach die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung berücksichtigt werden müssten. Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofes als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische Vollstreckung könnten gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Die EMRK ist daher, obwohl sie auf der Ebene einfachen Bundesrechts gilt, für die Auslegung der Grundrechte heranzuziehen.
Zugegeben, das BVerfG leitet diese besondere Bedeutung der EMRK nicht allein aus Art. 59 Abs. 2 GG her, sondern zieht Art. 20 Abs. 3 GG und die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes heran. Diese Völkerrechtsfreundlichkeit hört nicht bei der EMRK auf, sondern erstreckt sich auch auf das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (KRÜ) und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRÜ), die beide vom Bundesverfassungsgericht als Auslegungshilfen herangezogen wurden (zur KRK, zur BRÜ). Dass auch das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau als Auslegungshilfe für das Strafgesetzbuch herangezogen werden sollte, haben Anna von Gall und Cara Röhner in einem früheren Beitrag dargelegt.
Für Menschenrechte ist diese Herangehensweise verständlich. Nicht zuletzt bekennt sich das deutsche Volk in Art. 1 Abs. 2 GG „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ – die internationale Dimension der Menschenrechte ist verfassungsrechtlich angelegt.
Uferlose Völkerrechtsfreundlichkeit?
Führt die Görgülü-Rechtsprechung dazu, jeden von Deutschland ratifizierten völkerrechtlichen Vertrag als Auslegungshilfe für den Gehalt der Verfassung heranzuziehen? Wird jeder völkerrechtliche Vertrag zum Maßstab für das einfache Recht? Sollen beispielsweise auch umweltvölkerrechtliche Verträge zur Auslegung von Art. 20a GG herangezogen werden? Ist das Grundgesetz so völkerrechtsfreundlich, auch das dritte Zusatzprotokoll zum Europäischen Auslieferungsübereinkommen, das Abkommen zur zweiten Änderung des Partnerschaftsabkommens zwischen den Mitgliedern der Gruppe der Staaten in Afrika, im Karibischen Raum und im Pazifischen Ozean einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits sowie das Internationale Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseitigung von Wracks, um nur Beispiele aus der aktuellen Ausgabe des Bundesgesetzblatts II zu nennen, gleich wie die EMRK Bedeutung innerhalb der deutschen Rechtsordnung erlangen?
Die Ausweitung der Görgülü-Rechtsprechung auf andere völkerrechtliche Verträge und eine Neuauslegung einiger Normen des Grundgesetzes steht damit im Raum.
Beim Geld hört die Völkerrechtsfreundlichkeit auf
Bislang hörte die Völkerrechtsfreundlichkeit beim Geld auf, genauer gesagt bei Doppelbesteuerungsabkommen (DBA). Der deutsche Steuergesetzgeber hat solche DBA zwar regelmäßig umgesetzt, in der Folge aber Vorschriften erlassen, nach denen eine Steuer erhoben wird, obwohl Deutschland in einem DBA auf die Erhebung gerade dieser Steuer verzichtet hat (treaty-override). Vor die Wahl zwischen Völkerrechtstreue oder Steuereinnahmen gestellt, hat sich der Gesetzgeber klar für sein Portemonnaie entscheiden.
Trotz des evidenten Völkerrechtsbruchs hat der Bundesfinanzhof (BFH) diese Ansicht geteilt und treaty-overrides regelmäßig als verfassungsmäßig betrachtet – bis zu einer Entscheidung von Ende 2012. Verunsichert durch die Görgülü-Rechtsprechung legte der BFH dem BVerfG die Frage der Verfassungsmäßigkeit vor. Das Steuerrecht ist inzwischen zwar weiter und antizipiert nationale treaty-overrides in neueren DBA. Das bedeutet aber nicht, dass sich der Normenkontrollantrag erledigt hat: Wie wird das BVerfG die Frage beantworten, welche Folgen ein völkervertragsrechtswidriges Gesetz in der deutschen Rechtsordnung hat?
Es ist durchaus vorstellbar, dass das BVerfG diese Klippe umschifft und darauf verweist, dass Völkervertragsrecht keinen Maßstab im Rahmen von Art. 100 Abs. 2 GG bildet – die interessanten Fragen blieben damit offen. Richtiger wäre, zu betonen, dass die Görgülü-Rechtsprechung nicht allein auf der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes beruht, sondern zusätzlich der „Konzeption der Europäischen Menschenrechtskonvention als ein Instrument zum Schutz und zur Durchsetzung bestimmter Menschenrechte“ geschuldet ist und schlussendlich DBA etwas anderes sind als Menschenrechtsinstrumente.
Koordinaten für eine Neujustierung von „Staatsrecht III“
Es ist aber genauso gut vorstellbar, dass das BVerfG die Gelegenheit nutzt und den Komplex „Staatsrecht III“ neu aufstellt. Eine solche Neujustierung müsste sich an den Koordinaten des Grundgesetzes orientieren. Problematisch daran ist zunächst die treaty-override-Konstellation. Hier steht auf der einen Seite das Rechtsstaatsprinzip: Zu den Rechtsbindungen der deutschen Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 3 gehört die Bindung an völkerrechtliche Verträge. Auf der anderen Seite steht das Demokratieprinzip: Der Gesetzgeber soll nicht auf ewig an Verträge gebunden sein, welche die Regierung abschließt (völkerrechtlich ist immerhin möglich, einen Vertrag ohne parlamentarische Zustimmung zu schließen); eine Änderungsmöglichkeit muss dem Gesetzgeber auch nach parlamentarischer Zustimmung möglich bleiben.
Bedenkenswert ist, dass dem Wortlaut von Art. 59 Abs. 2 GG nicht zu entnehmen ist, an welcher Stelle der Normenhierarchie ein umgesetzter völkerrechtlicher Vertrag steht. Es wäre denkbar, Art. 59 Abs. 2 als lex specialis nur zur Frage der parlamentarischen Mitwirkung zu lesen und für die Rangfrage auf Art. 25 GG zurückzugreifen. Darüber hinaus muss das Bundesstaatsprinzip in Blick genommen werden, wie die Reichskonkordat-Entscheidung von 1957 illustriert. Das BVerfG prüfte, ob die Länder gegenüber dem Bund verfassungsrechtlich verpflichtet wären, die Bestimmungen des Reichskonkordats (ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen Reich und Heiligem Stuhl) bei der Gestaltung des jeweiligen Landesschulrechts zu beachten. Einmalig war, dass die Gesetzgebungskompetenz zum Vertragsschluss noch beim Reich, 1957 aber bereits bei den Ländern lag. Das BVerfG entschied
„daß das Grundgesetz in seiner Völkerrechtsfreundlichkeit nicht so weit geht, die Einhaltung bestehender völkerrechtlicher Verträge durch eine Bindung des Gesetzgebers an das ihnen entsprechende Recht zu sichern. Weder zugunsten von Verträgen, deren Gegenstand der Bundesgesetzgebung unterliegt, noch zugunsten von Landesverträgen, deren Gegenstand nach dem Grundgesetz der Landesgesetzgebung unterliegt, erachtet das Grundgesetz eine verfassungsrechtliche Bindung der Gesetzgebung an das Vertragsrecht für erforderlich. Das Grundgesetz überläßt die Erfüllung der bestehenden völkerrechtlichen Vertragspflichten der Verantwortung des zuständigen Gesetzgebers. […] Besondere vertragliche Vereinbarungen, auch wenn sie objektives Recht setzen, genießen diese Vorrangstellung nicht. Der Gesetzgeber hat also die Verfügungsmacht über den Rechtsbestand auch dort, wo eine vertragliche Bindung besteht, sofern sie nicht allgemeine Völkerrechtssätze zum Gegenstand hat.“
Ausblick
Klare Worte. Ob es dabei bleiben kann, scheint in Anbetracht der fortschreitenden Integration in die internationale Gemeinschaft fraglich. Auch Deutschland öffnet seine Souveränität immer weiter. Angesichts der Rechtsprechung zu den innerstaatlichen Wirkungen der Europäischen Menschenrechtskonvention stellt sich sowohl den BundesverfassungsrichterInnnen als auch VerfassungsjuristInnen die Frage, ob sich die Argumentation der Reichskonkordat-Entscheidung überlebt hat oder die Görgülü-Wirkung die Zukunft ist.
Robert Frau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Im Februar 2015 erscheint mit Der Gesetzgeber zwischen Verfassungsrecht und völkerrechtlichem Vertrag eine ausführlichere Erörterung des hier Vorgestellten.
Alle Beiträge des Symposiums erscheinen auch auf dem Verfassungsblog.
Cite as: Robert Frau, “Hört erst beim Geld die Freundschaft auf?”, Völkerrechtsblog, 18 December 2014, doi: 10.17176/20170125-150310.
Lieber Robert,
lieber Herr Uerpmann-Wittzack,
ich stimme Ihnen beiden zu, der BFH hat es sich zu leicht gemacht. Das BVerfG hat den Görgülü-Ansatz bislang nur auf Menschenrechte angewendet (oder auf subjektive Recht im weitesten Sinne wie im WÜK-Beschluss), und insofern besteht in der Tat die Besonderheit, dass sich die Grundrechte des Grundgesetzes besonders gut für eine “völkerrechtsfreundliche” Berücksichtigung von EMRK und EGMR-Rechtsprechung eignen. Die Berücksichtigung von Doppelbesteuerungsabkommen ist da viel schwieriger.
Gleichwohl würde ich Görgülü nicht als Entscheidung lesen, die nur Aussagen zur Berücksichtigung von Menschenrechten trifft. Art. 1 Abs. 2 GG spielt in der Begründung nur eine untergeordnete Rolle und wird, soweit ich sehe, nur im Hinblick auf die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte erwähnt (stärkere Betonung erfährt die Vorschrift dann allerdings in der Entscheidung zur Sicherungsverwahrung, ohne dass damit eine substantielle Änderung verbunden wäre). Das BVerfG betont mehrfach, dass es darum geht, Völkerrechtsverstöße der Bundesrepublik und damit die völkerrechtliche Verantwortlichkeit zu vermeiden. Zahlreiche Passagen zielen generell auf die Befolgung und Beachtung des Völkerrechts ab. Insofern bin ich schon der Meinung, dass sich Görgülü im Grundsatz auf sämtliche völkerrechtliche Bindungen der Bundesrepublik erstrecken lässt. Mit welchen konkreten Konsequenzen ist freilich eine andere Frage.
Hinsichtlich der Problematik, ob (und in welchem Umfang) auch der Gesetzgeber von Verfassungs wegen auf die Beachtung völkerrechtlicher Bindungen verpflichtet ist, enthält Görgülü meiner Meinung nach widersprüchliche Aussagen (was insofern nicht verwundern sollte, als diese Frage nicht Gegenstand der Entscheidung war). Insofern bin ich auch sehr gespannt, ob und inwiefern das BVerfG die in Görgülü enthaltenen Ansätze und Andeutungen fortschreiben, konkretisieren bzw. modifizieren wird.
Herzliche Grüße,
Mehrdad Payandeh
Lieber Herr Uerpmann-Wittzack,
Sie sprechen mir aus dem Herzen! Der BFH hat wahrlich schlecht begründet. DBA sind eben etwas anderes als die EMRK, die Kinder- oder Frauenrechtskonvention. Dieses Standbein der Görgülü-Rechtsprechung verkennt der BFH.
Ihre Kritik an der Formulierung kann ich ebenfalls nachvollziehen. Lassen Sie mich bitte etwas ergänzen. Der BFH schreibt die Reichskonkordat-Entscheidung zu seinen Gunsten um und lässt die entscheidenden Passagen bei seinem Zitat entfallen. Weil er um die sehr deutlichen Worte des BVerfG nicht herumkommt, schustert er sich seinen Weg zusammen. Im Übrigen merkt der BFH auch nicht an, dass er aus der Habilitationsschrift von Florian Becker zitiert.
Ich teile ihre Thesen, auch wenn es im Blogbeitrag schwerpunktmäßig um die Diskussion ging, die sich an dieser Entscheidung entzündet. Es galt, das Verfahren und den Diskussionsbedarf aufzuzeigen.
Die Möglichkeit, dass das BVerfG die Gelegenheit nutzt, neu zu justieren, sehe ich durchaus. Der BFH ist ja nicht der erste, der seine Stimme erhebt und eine Neujustierung im Lichte der Görgülü-Rechtsprechung fordert. Klaus Vogel hat auf das BVerfG mit dem Aufsatz „Völkerrechtliche Verträge und innerstaatliche Gesetzgebung – Eine neue Entscheidung des BVerfG hat Bedeutung auch für die Beurteilung des treaty override“ (IStR 2005, S. 29 ff.) reagiert.
Ich bin durchaus gespannt auf das, was aus Karlsruhe kommen wird.
Die Görgülü-Rechtsprechung beruht auf den Besonderheiten des Grund- und Menschenrechtsschutzes: Deutsche Grundrechte sind nach Möglichkeit im Lichte der Rechte der EMRK und der diesbezüglichen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu interpretieren. Auf Doppelbesteuerungsabkommen lässt sich das nicht übertragen. Es gibt keine deutschen Verfassungsnormen, die im Lichte eines Doppelbesteuerungsabkommens so ausgelegt werden könnten, dass ein Doppelbesteuerung mittelbar Verfassungsrang erhielte.
Der von Robert Frau angeführte Vorlagebeschluss des BFH ist extrem schlecht begründet. In Rn. 18 des Beschlusses beruft sich der BFH auf den Alteigentümer-Beschluss des BVerfG und fügt ein wörtliches Zitat an, so dass sich der Eindruck aufdrängt, dass hier das BVerfG zitiert werde. Tatsächlich legt der BFH dem BVerfG Worte in den Mund, die es nie gesagt hat. Das wörtliche Zitat stammt von Florian Becker, NVwZ 2005, 289 (291), wobei diese Fundstelle im gesamten Vorlagebeschluss nicht genannt wird. Ein zweites wörtliches Zitat stammt ebenfalls nicht vom BVerfG, sondern von Klaus Vogel, IStR 2005, 29 f. Diese Quelle wird immerhin in Rn. 17 genannt. In Rn. 18 entsteht allerdings auch bei diesem Zitat der Eindruck, als werde das BVerfG zitiert.
Man mag die Position vertreten, die der BFH einnimmt. Mit der Rechtsprechung des BVerfG hat Sie indes nichts zu tun.