Das Buch „Die konkrete Utopie der Menschenrechte“ von Wolfgang Kaleck (European Center for Constitutional and Human Rights) leistet im besten Sinne Menschenrechtsarbeit. Es verbindet Menschenrechtstheorie und Menschenrechtspraxis, sozialwissenschaftliche und juristische Perspektiven, zivilgesellschaftliche und völkerrechtliche Ansätze, strukturelle Gesellschaftskritik und konkrete Lösungsansätze. Diese Vielfalt wird zusammengehalten durch einen Anspruch, der das gesamte Buch durchzieht: sich mit der Pluralität, der Diversität und auch der Widersprüchlichkeit von Menschenrechten auseinanderzusetzen und sie einer breiteren Leser/innenschaft zugänglich zu machen. Das Buch trägt damit zu gesellschaftspolitischen Debatten ebenso wie zur gesellschaftlichen Bildung bei: Es bietet einen Zugang zur Komplexität der Menschenrechte.
Vor diesem Hintergrund diskutiere ich im Folgenden die Umgangsmöglichkeiten mit dieser Komplexität in Kalecks Buch. Dies bildet einen Beitrag zu der Frage, wie die Komplexität der Menschenrechte weiter in gesellschaftliche Bildung und gesellschaftspolitische Debatten übersetzt werden kann, um Menschenrechtsverletzungen anzugehen und Menschenrechte zu stärken.
Das große Ganze
Kaleck erhebt mit seinem Buch den programmatischen Anspruch, „die komplexeren Zusammenhänge sowie systemische und strukturelle Ursachen von Menschenrechtsverletzungen“ (S. 150) zu adressieren. Dezidiert wehrt er sich gegen eine „Rhetorik der Vereinfachung und der Komplexitätsreduktion“ (S. 150), dagegen, „komplexe Probleme in überschaubare Einheiten aufzuteilen (S. 48). Stattdessen gelte es, das „große Ganze“ (S. 48) in den Blick zu nehmen. Gleichzeitig will und muss ein Buch, das sich auch an eine breitere Öffentlichkeit wendet, trotz seiner Komplexität nachvollziehbar und zugänglich bleiben.
Der Umgang mit diesem Anspruch bildet eine kaum zu unterschätzende Herausforderung, wenn Komplexität weder schlicht reduziert noch einfach nur reproduziert, sondern in die Gesellschaft hinein übersetzt werden soll. Dafür genügt es nicht, sich mit der vielbeschworenen Formel zu begnügen, dass alles mit allem zusammenhängt. Entscheidend ist vielmehr, wo und wie genau etwas zusammenhängt – und wo nicht. Denn nicht alles steht in kausalen Zusammenhängen. Entscheidend für die Übersetzung von Komplexität ist daher auch die Frage, wie mit den jeweiligen inneren und äußeren Widersprüchen in den Zusammenhängen und Brüchen umgegangen wird.
Formen der Komplexität
Das Feld der Menschenrechte ist von zahlreichen Widersprüchen geprägt. In direktem Anschluss an Müllers Unterscheidung zwischen additiver und reflexiver Multiperspektivität diskutiere ich den Umgang mit diesen Widersprüchen anhand der Unterscheidung zwischen additiver Komplexität und reflexiver Komplexität. In der additiven Variante wird Komplexität durch die Anhäufung und das Nebeneinanderstellen unterschiedlichster Dimensionen und Facetten erreicht. In der reflexiven Komplexität werden diese Dimensionen und Facetten auf ihre Begründungen, ihre gegenseitigen Verbindungen und Widersprüche sowie auf die ihnen eigenen, inneren Widersprüche hin befragt. Im Buch finden sich beide Varianten wieder.
Aufzählungen
In einem Parforce-Ritt (und im Bewusstsein dessen, dass dieser sich „mit vielen Details ausmalen und vertiefen ließe“, S. 58) werden die Ursachen für Menschenrechtsverletzungen in weltumspannenden Entwicklungen des Kapitalismus, der Globalisierung, in der Macht von Unternehmen, autokratischen Regierungen, Überwachungsmaßnahmen, Gentrifizierung, häuslicher Gewalt, Krieg und Klimawandel verortet. Die Arbeitsbedingungen von Lagerarbeiter/innen bei Amazon werden ebenso problematisiert wie die Unterversorgung von „Altenheimbewohner*innen in Bergamo und Madrid, die Geflüchteten und die Gefängnisinsass*innen“ (S. 49). Der Anspruch, einen Blick auf das große Ganze zu werfen, mündet hier in einem Aufzählen und Nebeneinanderstellen zahlreicher, teilweise miteinander zusammenhängender, aber auch unterschiedlicher oder sogar widersprüchlicher Facetten.
Diese additive Komplexität erfüllt durchaus eine wesentliche Funktion: Sie bietet eine Zusammenschau, einen Überblick über all die Gründe, die Menschenrechtsverletzungen zugrunde liegen, und verortet diese in strukturellen Zusammenhängen statt bloßer individueller Verantwortung. Das ist zentral für eine gesellschaftliche Bildung zur Stärkung von Menschenrechten.
Spiegelbildlich und als Gegengewicht dazu schließt das Buch einen Zusammenschnitt von zivilgesellschaftlichen Widerständen und Bewegungen gegen Menschenrechtsverletzungen an. Es nennt Beispiele für antikapitalistische, antirassistische, postkoloniale, feministische und klimaaktivistische Bewegungen weltweit.
Spätestens an dieser Stelle würde eine additive Komplexität an ihre Grenzen stoßen – nämlich dann, wenn sie die Widersprüche innerhalb und zwischen diesen Bewegungen ausblendet, statt sie offenzulegen. Demgegenüber ermöglicht es eine reflexive Komplexität, diese Widersprüche, wenn nicht auflösbar, so doch bearbeitbar zu machen. Das strebt auch Kaleck an, wenn er die „Widersprüche und Ambivalenzen“ zivilgesellschaftlicher Bewegungen anspricht, um sie „offen und transparent auszutragen“ (S. 151). Entsprechend kommen die Stärken seines Buches insbesondere dann zum Tragen, wenn es auf diese Ambivalenzen eingeht und von der additiven Komplexität umstellt auf eine reflexive Komplexität.
Auseinandersetzungen
Die Reflexion auf innere Widersprüche auch innerhalb von Menschenrechten und Menschenrechtsbewegungen selbst kann dazu beitragen, diese zu stärken, auch weil damit Kritiken an Menschenrechten begegnet werden kann. Das unterscheidet sich maßgeblich von einem additiven Modell, das lediglich all die schlechten Menschenrechtsverletzungen dichotom den guten Menschenrechten gegenüberstellt. Als Beitrag zu gesellschaftlicher Bildung und gesellschaftspolitischen Debatten würde solch eine Komplexitätsreduktion der Menschenrechte entweder zu einer Übernahme dieser dichotomen Perspektive führen oder zu deren ebenso dichotomer Ablehnung. In beiden Fällen aber handelte es sich um eine Übernahme von vorgegebenen Perspektiven, die ohne Begründung und ohne intrinsische Auseinandersetzung auch von anderen, gegenteiligen Perspektiven ersetzt (oder dogmatisch verhärtet) werden können.
Demgegenüber bietet eine reflexive Komplexität die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Widersprüchen und der Bildung (!) begründeter Perspektiven, um einen eigenständigen und reflektierten Umgang damit zu finden. Dies zielt im besten Sinne gesellschaftlicher Bildung auf eine Stärkung von Denk-, Handlungs- und Urteilsmöglichkeiten aller Beteiligten ab, welche eine der Voraussetzungen für eine Stärkung von Menschenrechten durch zivilgesellschaftliche Bewegungen bildet.
Nicht-westliche, strukturelle und historische Perspektiven
Kalecks Auseinandersetzung mit der Komplexität der Menschenrechte wird deutlich, wenn er näher auf Beispiele eingeht, die den Weg für weiterführende Diskussionen (von Widersprüchen) ebnen.
So zeichnet er nach, wie Amnesty International, die 1961 gegründete und sichtbarste Nichtregierungsorganisation für Menschenrechte, ein (entgegen der Logik des Kalten Krieges) politisch neutrales, rein moralisches und individualisierendes Verständnis von Menschenrechten geprägt hat. Trotz (oder wegen) der genau dadurch errungenen bedeutenden Beiträge zu Menschenrechten wurden allerdings gleichzeitig die „systemischen und strukturellen Ursachen von Menschenrechtsverletzungen“ (S. 79) ausgeklammert.
Dies verstärkte das Bild von Menschenrechten als vornehmlich westliches Instrumentarium, das auch heute noch sowohl westliche als auch nicht-westliche Perspektiven prägt. Entsprechend führt Kaleck aus, wie postkoloniale Perspektiven die Ungleichverteilung an Ressourcen, Handlungsfähigkeiten und Gehörtwerden zugunsten westlicher Menschenrechts-Organisationen kritisieren. Das trage zu einem Einverständnis mit herrschenden Strukturen ebenso bei wie zu einer Marginalisierung der Stimmen und Ressourcen nicht-westlicher Bewegungen (S. 83ff.).
Die Probleme der politischen Neutralität, der Ausblendung struktureller Ursachen und der Professionalisierung westlicher Menschenrechtsarbeit stehen zudem in engem Zusammenhang mit einer lang vorherrschenden (und immer noch folgenreichen) Ungleichgewichtung zwischen politischen und bürgerlichen Menschenrechten einerseits und wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten andererseits. Letztere sind normativ, rechtlich und institutionell schwächer verankert als erstere, auch weil sie in besonderem Maße auf eine Thematisierung von strukturellen, globalen und, ja, auch kapitalismusbedingten Ursachen angewiesen sind. Zudem stehen sie in bestimmten Hinsichten in einem Spannungsverhältnis zu anderen Rechtsgebieten wie dem internationalen Handels- und Investitionsrecht (S. 92) oder dem Recht auf Eigentum, das sogar menschenrechtlich verbürgt ist und damit die Spannungen im Innersten der Menschenrechte selbst kennzeichnet (S. 74).
Auf der Grundlage der aus all diesen Faktoren resultierenden Annahme, dass Menschenrechte westlich seien, wurden immer wieder wirkmächtige Kritiken an Menschenrechten formuliert. Kaleck zeichnet nach, wo diese Annahme (neben ihren berechtigten Hinweisen auf menschenrechtliche Widersprüche) auch fehl geht – nämlich dann, wenn sie die nicht-westlichen Menschenrechtsbewegungen und die zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten der Demokratisierung von Menschenrechten (S. 141) ausblendet.
Schließlich verweist Kaleck auch auf den Zusammenhang der heutigen Menschenrechtsbewegungen zu den Nürnberger Prozessen, deren Nachfolgeverfahren, den von Fritz Bauer ermöglichten Frankfurter Auschwitz-Prozessen und den Aktivitäten von Beate und Serge Klarsfeld, die darauf abzielten, die zahlreichen straffrei lebenden Nationalsozialisten ordentlichen Gerichtsverfahren zuzuführen. Wenngleich die Nürnberger und die Tokioter Prozesse als einer der Gründungsmomente der Menschenrechte in deren Geschichtsschreibung eingegangen sind, so findet der nach 1945 fortbestehende Antisemitismus in aktuellen Menschenrechtsdebatten weniger Beachtung. Er findet sich auch in Teilen heutiger Menschenrechtsperspektiven wieder.
Produktive Widersprüche
Diese Widersprüche gilt es offenzulegen – nicht, um die Idee der Menschenrechte zu verwerfen, sondern um, im Sinne Kalecks, eine „konkrete Utopie der Menschenrechte“ in Auseinandersetzung mit ihren eigenen Widersprüchen zu ermöglichen. Das bildet auch die Grundlage für Modelle wie das eines vermittelten Universalismus, der die Kritiken am Universalismus der Menschenrechte auf- und ernst nimmt – wiederum nicht, um den universellen Anspruch der Menschenrechte zu negieren, sondern um ihn auf seine Stärken ebenso wie auf seine Schwächen zu reflektieren und erstere gerade durch den Blick auf letztere zu verwirklichen.
Ein in diesem Sinne mit seinen Kritiken vermittelter Universalismus ist plural. Er ist sich gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Ungleichheitsverhältnisse bewusst, die auch innerhalb menschenrechtlicher Bewegungen und Institutionen zum Tragen kommen können. Er ersetzt abstrakte, moralisierende und homogenisierende Vorstellungen von Universalismus mit der Reflexion auf seine eigene Heterogenität, Gewordenheit und Bedingtheit. Und seine an Menschenrechten orientierte Normativität ist im doppelten Sinne offen: Normative Offenheit bedeutet zum einen Reflexion auf den Kontext, die Gründe, die Formen und die möglichen (auch unintendierten) Effekte der eigenen normativen Orientierung an Menschenrechten. Zum anderen bedeutet normative Offenheit auch Unabgeschlossenheit. Ein Bewusstsein über die eigene Fehlbarkeit – auch in Ansprüchen, die durch den Bezug auf Menschenrechte geadelt sind – bildet eine wesentliche Grundlage für den Austausch mit anderen Perspektiven. Dieser Austausch wiederum ist Gegenstand von Menschenrechtsarbeit als Beitrag zu und Resultat aus gesellschaftspolitischen Debatten und gesellschaftlicher Bildung.
Bei all ihrer Komplexität verweisen Menschenrechte gleichzeitig auf einen ganz basalen und einfachen Anspruch: das Leiden von Menschen an gesellschaftlich verursachten Problemen zurückzudrängen. Dazu trägt Kalecks Buch in emphatischer Weise bei.
Janne Mende ist Forschungsgruppenleiterin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, wo sie die Max-Planck-Forschungsgruppe MAGGI („The Multiplication of Authorities in Global Governance Institutions“) leitet und zu Menschenrechten, Global Governance, internationalen Institutionen und transnationalen Normen forscht.