Interviewee Armin von Bogdandy; Quelle: privat

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Demokratie und Völkerrecht

Ein Interview mit Armin von Bogdandy

15.08.2018

Es wird zur Zeit viel über die Funktionsfähigkeit von Demokratie und über die Effektivität internationalen Rechts gesprochen, aber selten über beides zusammen. Wer wäre besser aufgestellt, um dazu etwas Erhellendes zu sagen, als Armin von Bogdandy, der sich seit vielen Jahren mit den Zusammenhängen von Demokratie und Völkerrecht befasst? Armin von Bogdandy bedarf keiner Vorstellung, wie es so schön heißt, er ist Direktor am Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und wurde 2014 mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet. Für dieses Interview fand er dankenswerterweise Zeit, nachdem er gerade aus Costa Rica zurückgekehrt war – lesen Sie mehr:

Sie haben 2003 einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel „Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme“. Darin diskutieren Sie, wie das demokratische Prinzip auch unter Bedingungen der Globalisierung zur Geltung kommen kann. Was sehen Sie nach der Entwicklung der letzten 15 Jahre anders, was ist gleich geblieben?

Das Problem, wie man das Völkerrecht mit dem demokratischen Prinzip zusammenbringen kann, stellt sich für mich heute noch sehr viel schärfer als vor 15 Jahren. Das ergibt sich aus der Entwicklung, die wir seitdem erlebt haben. Viele Menschen sind heute sehr viel kritischer gegenüber der globalen Ordnung, wie sie teilweise im Völkerrecht niedergelegt ist, und sind auch kritischer gegenüber dem Völkerrecht als solchem. In der intellektuellen Tradition, in der ich großgeworden bin, lässt sich das als ein Entfremdungsproblem deuten. Wie kann man nun mit Entfremdung umgehen? Das vielleicht wichtigste Versprechen der Demokratie ist es, Entfremdung zu überwinden, und so glaube ich, dass eine Antwort auf die Entwicklungen ist, dass man Demokratie und Völkerrecht in einen überzeugenden Ausgleich bringt.

Und es gibt durchaus Wege: Damals, 2002, gab ich das Manuskript des Aufsatzes einem indischen Kollegen mit der Frage, ob er diese Beschreibung für eine rein europäische Sicht auf die Dinge halte, oder ob sich dieses Problem aus seiner Perspektive ähnlich darstelle. Und er bestätigte, dass es sich aus seiner Sicht ähnlich darstelle, aber er ermutigte mich vor allem, doch auch zu schreiben, wie man mit dem Problem umgehen solle. Worauf ich erwiderte, das wisse ich leider nicht. In der Hinsicht bin ich weitergekommen, insofern ich es für relevant halte, was dann der Vertrag von Lissabon in Artikel 9-12 EUV festschrieb. Das ist natürlich ein sehr synkretistisches Demokratieverständnis, aber gleichwohl – und vielleicht sogar deswegen – halte ich es für die internationale Ebene für relevant. Natürlich kann man die Artikel 9-12 EUV nicht einfach so übernehmen, dafür sind internationale Institutionen zu verschieden von der Europäischen Union. Aber sie zeigen Wege auf, wie man mit dem Problem umgehen kann, und zwar nicht nur als ein theoretischer Entwurf, sondern als Konzept, die zahlreiche Staaten demokratisch ratifiziert haben.

Zugleich steht außer Frage, dass wir heute, im Vergleich zu 2002, problembewusster sind. Wenn man über Demokratie nachdenkt, dann denkt man auch über Solidarität und die Wahrnehmung von Zusammengehörigkeit nach. Wir haben heute eine Reihe von Menschen und politischen Kräften, die vertreten, für Solidarität und Zusammengehörigkeit sei das Nationale doch der letzte Horizont. Ich sehe das nicht so, aber es gibt viele Menschen, die das so sehen, und damit muss man umgehen. Auch das hat die Fragestellung verschärft.

Diese Entwicklungen der letzten Jahre, hin zu einer starken Betonung des Nationalen, werden häufig als „Backlash“, irgendwie als Rückwärtsbewegung, nachdem wir schon einmal weiter waren, beschrieben – ist das eigentlich eine treffende Beschreibung?

Für mich ist der Begriff des Rückschritts unzutreffend und gefährlich, denn er impliziert, dass man zu einer früheren Situation zurückkehren kann. Die politischen Kräfte, die das vertreten, und ich mag die Bezeichnung „populistisch“ nicht, gehen von der Vorstellung aus, dass man irgendwie zu der Welt der siebziger oder gar sechziger Jahre zurückkehren könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das möglich ist. Der Versuch zurückzukehren würde in eine andere Situation führen, vielleicht in eine, die eher wie die zerfallende Sowjetunion aussähe. Daher ist der Begriff des Rückschritts unzutreffend und gefährlich, weil er vorgaukelt, man könne auf recht sicherem Wege zu einer bekannten, besseren Situation zurückgelangen.

Wie zentral ist Demokratie für gerechtes internationales Recht?

Lange ist ja in der deutschen normativen Theorie verfochten worden, dass es eigentlich nur auf Demokratie ankomme. Gerade in Reaktion auf die Probleme, die das Naturrechtsdenken in Deutschland hatte, war dies die überwiegende Auffassung, Habermas ist emblematisch dafür, dass Gerechtigkeit zwar ein relevantes Thema ist, aber der Schlüssel für gerechtes Recht in seiner Demokratisierung liegt. In Amerika war das immer schon etwas anders. Meine Position ist, dass zumindest mit Blick auf internationales Recht, Demokratie keinesfalls das einzige Prinzip sein sollte, um die Frage der Gerechtigkeit zu beurteilen. Zugleich bin ich aber der Meinung, dass es ein relevantes Prinzip darstellt. Hier komme ich zum anfänglich Gesagten zurück: eines der großen Probleme des internationalen Rechts ist das Problem der Entfremdung und die demokratische Perspektive bildet einen wichtigen Horizont für Antworten darauf.

Sie beschäftigen sich seit Jahren intensiv mit dem Völkerrecht in Lateinamerika. Was sind die zentralen Erkenntnisse aus dieser Befassung?

Gerade mit Blick auf Demokratie ist die Befassung mit Lateinamerika ungemein lehrreich. Zunächst, fast kontraintuitiv, betrifft das die demokratische Bedeutung von internationalen Gerichten. Mitte Juli 2018 fand eine eindrucksvolle Feier aus Anlass des 40. Jahrestags des Inkrafttretens der Amerikanischen Menschenrechtskonvention statt, die der Interamerikanische Gerichtshof auf die Beine gestellt hatte. Dabei gab es unter anderem ein Panel, bei dem Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu Wort kamen. Eine Grundlinie bei allen Opfern war, dass sie sich im Verhandlungssaal des IAGH erstmals als Bürgerinnen und Bürger fühlten, weil vor diesem internationalen Gericht die Staatsgewalt den Menschen in die Augen schauen, sie als Bürger behandeln und sich rechtfertigen muss.

Ein zweiter interessanter Aspekt ist, dass für viele Menschen in Lateinamerika Demokratie in erster Linie Sozialstaat bedeutet, also Sicherheit in der eigenen Lebenssituation. Das ist deutlich anders als das unter deutschen Juristen herrschende Demokratieverständnis, aber vielleicht ein Ansatz, mit dem auch wir in Deutschland und Europa mehr über Demokratie nachdenken sollten.

Der dritte Aspekt ist, dass Lateinamerika in einer gewissen Weise die Dystopie unser eigenen Zukunft darstellt: soziale Exklusion, Gewalt, Korruption der öffentlichen Institutionen, fehlende Unabhängigkeit der Justiz. Auch deshalb sind die Mechanismen, mit denen die Lateinamerikaner auf diese Phänomene reagieren, für uns von Relevanz.

Wohin bewegt sich das Völkerrecht angesichts von autoritaristischen Strömungen weltweit? Hat das Völkerrecht dem etwas entgegenzusetzen und inwieweit verändert sich der Inhalt von Völkerrecht selbst?

Das Völkerrecht verliert an Eigengewicht, es gibt eine klare Dynamik vom Multilateralen zum Bilateralen. In den Neunziger und frühen Zweitausender Jahren hatte man den Eindruck, das Bilaterale sei Relikt einer früheren Zeit, oder ein nachgeordneter Teil des Völkerrechts; die eigentliche Musik spielte im Multilateralen. Das hat sich jetzt geändert, das Bilaterale ist wieder bedeutender geworden.

Hat das Völkerrecht dem etwas entgegenzusetzen? Das Völkerrecht als solches nicht, denn das ist ja erstmal nur bedrucktes Papier. Aber dieses bedruckte Papier kann für Akteure, die dem etwas entgegensetzen wollen, sehr nützlich sein. Denn das heutige Völkerrecht ist institutionell tief verankert, gerade auch im staatlichen Raum, und diese institutionelle Verankerung ermächtigt eine Reihe von Akteuren auf der internationalen und auf der nationalen Ebene. Das hilft, Kräften, die auf das nationale oder gar auf das nationalistische Prinzip setzen, etwas entgegenzuhalten. Auch hier sind die Lehren von Lateinamerika hilfreich. Sie zeigen, dass in ungleich schwächeren Kontexten die Allianz von internationalen und nationalen Kräften, die sich auf völkerrechtliche Sätze berufen, wirkmächtig sein kann.

Wie international ist die Völkerrechtswissenschaft? Muss sie internationaler werden?

Mit einer Völkerrechtswissenschaft ist es nicht getan. Die Rechtswissenschaft ist ja in erster Linie praktische Wissenschaft, sie ist auf handelnde, entscheidende Akteure ausgerichtet. Diese handelnden und entscheidenden Akteure arbeiten aber in ganz unterschiedlichen politischen und sozialen Systemen. Insofern ist es wichtig, dass Völkerrechtswissenschaftlerinnen und Völkerrechtswissenschaftler zu einem relevanten Teil auf diese praktischen Diskurse ausgerichtet bleiben und dafür anschlussfähig sind. Da diese Diskurse aber so unterschiedlich sind, kann das nicht aus einer einheitlichen Völkerrechtswissenschaft heraus geschehen.

Zugleich brauchen wir natürlich einen globalen Diskurs, der diese verschiedenen Diskurse miteinander vermittelt. Dieser Diskurs – muss er internationaler sein? Er muss vor allem inklusiver sein, und zwar nicht nur hinsichtlich der ursprünglichen Staatsangehörigkeit der Autorin oder des Autors, sondern auch hinsichtlich dessen, was als Fragestellung und als methodische Behandlung zugelassen wird.

Daran anschließend: In der Interpretation und Fortentwicklung des internationalen Rechts geht es immer auch um die Frage, wie sehr unsere Begriffe und Prinzipien selbst Ausdruck eurozentrischer Prägung sind. Muss die Völkerrechtswissenschaft ihr Instrumentarium überdenken?

Das erste Moment von Wissenschaftlichkeit ist Reflexivität. Man soll stets versuchen, sich Rechenschaft darüber abzulegen, was man gerade tut. Das ist natürlich ein unendlicher Prozess, gleichwohl ist es das fundamentale Element von Wissenschaftlichkeit. Es impliziert, dass man genau diese grundlegende Frage des Eurozentrismus stellt, in dem Maße, in dem das möglich ist.

Wenn Sie heute eine Bestandsaufnahme schreiben würden, was sehen Sie als zentrale Frage des Völkerrechts? Was sind Ihrer Ansicht nach wichtige Forschungsaufgaben für VölkerrechtswissenschaftlerInnen?

Was ist die zentrale Frage, die sich ein Völkerrechtswissenschaftler oder eine Völkerrechtswissenschaftlerin heute stellen sollte? Das Wissenschaftssystem, ist ein soziales System, das von der Gesellschaft entscheidungsentlastet ausgestaltet ist und auf die Eigenmotivation der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzt. Vor diesem Hintergrund ist die wichtigste Frage diejenige, die einen mit der größten Leidenschaft am Morgen an den Schreibtisch treibt und die größte Freude in der Bearbeitung verspricht. Denn da ist zu erwarten, dass man mit dem größten Enthusiasmus forscht und deshalb das Beste liefert. Und damit am ehesten dem nachkommt, was die Gesellschaft von ihrer Wissenschaft erwartet.

 

Cite as: Dana Schmalz, “Demokratie und Völkerrecht: Ein Interview mit Armin von Bogdandy”, Völkerrechtsblog, 15 August 2018, doi: 10.17176/20180815-100542-0.

Autor/in
Dana Schmalz

Dana Schmalz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg/Berlin und Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung.

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