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„Dass der EuGH als internationales Gericht angesehen wird, ist ein großes Missverständnis“

Interview mit Prof. Dr. Koen Lenaerts, Vize-Präsident des Europäischen Gerichtshofs

10.12.2014

In unserem Symposium diskutieren wir derzeit über Spannungen zwischen Völkerrecht und nationalem Verfassungsrecht. Wo fügt sich das EU-Recht ein?

Wenn Sie sich die Kadi-Urteile aus 2008 und 2013 anschauen, dann stellen Sie fest, dass es sich um eine ganz ähnliche Konstellation handelt, wie die, über die der italienische Verfassungsgerichtshof zu entscheiden hatte (dessen Urteil ich übrigens mit großem Interesse gelesen habe). Die Unterwerfung eines Staates – oder auch der Europäischen Union – unter eine supranationale oder internationale Instanz kann nie zur Folge haben, dass die Grundzüge des eigenen Verfassungssystems gefährdet werden. Das hat das italienische Verfassungsgericht so ausgeführt und das deckt sich weitestgehend mit der Argumentation des EuGH, insbesondere im ersten Kadi-Urteil von 2008. Dort ging es bekanntlich um gezielte Sanktionen des Sicherheitsrats gegen Einzelpersonen. Solche sind nur dann möglich, wenn rechtsstaatliche Standards berücksichtigt werden. Der Sicherheitsrat kann die Mitgliedstaaten nicht veranlassen, die eigenen Standards zur Rechtsstaatlichkeit aufzugeben, ebenso wenig eine andere völkerrechtliche Instanz. Solange völkerrechtliche Normen den rechtsstaatlichen Standards der Staaten entsprechen, werden sie umgesetzt. Aber die Staaten haben ihre rechtsstaatlichen Grundprinzipien nicht mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen aufgeben können. Wenn also der Sicherheitsrat etwas beschließt, was diesen Standards nicht entspricht, dann sind die Mitgliedstaaten nicht gehalten, einen solchen Beschluss umzusetzen, auch wenn Sicherheitsratsresolutionen natürlich grundsätzlich bindend sind. Aber sie sind es nur soweit, wie Verfassungsprinzipien geachtet werden.

Der EuGH ist in einer interessanten Situation: einerseits können Konflikte auftreten mit einzelnen nationalen Verfassungsgerichten, andererseits hat sich der EuGH mit dem Kadi-Urteil ganz ähnlich verhalten, wie ein nationales Verfassungsgericht. Wie geht das zusammen?

Dass der EuGH teilweise immer noch als ein „internationales“ oder „regionales“ Gericht im Sinne des Völkerrechts angesehen wird, ist aus meiner Sicht ein großes Missverständnis. Der EuGH ist ein internes Gericht des europäischen Verfassungsverbunds, kein internationales Gericht. Er ist das oberste Gericht der EU-Rechtsordnung, die natürlich gemeinsam mit den jeweiligen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten betrachtet werden muss. Das ist klar. Aber dennoch ist der EuGH in erster Linie ein internes Gericht. Das Verhältnis zwischen nationalen Rechtsordnungen und der EU-Rechtsordnung ist ein grundlegend anderes als das Verhältnis zwischen EU-Recht und dem Völkerrecht. Die Position des EuGH zum Völkerrecht ähnelt der des amerikanischen Supreme Court. Als Gericht ist der EuGH äquivalent zum Modell eines Supreme Court. Gelegentlich treffen wir uns mit unseren amerikanischen Kollegen vom US Supreme Court, und merken: im Wesentlichen stellen sich vor unserem Gerichtshof die gleichen verfassungsrechtlichen Fragen, die auch den US Supreme Court beschäftigen. Um einige Beispiele aus dem grundrechtlichen Bereich zu nennen: die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft, der rechtliche Status von Embryonen und die Zulässigkeit von Stammzellenforschung, solche Fragen aus dem ethisch-verfassungsrechtlichen Bereich, die in den USA verhandelt werden, tauchen auch bei uns auf. Das wird verstärkt durch den Binnenmarkt, durch Harmonisierungsrichtlinien, die ausgelegt werden, durch die Grundrechtecharta, an deren Standard sich andere europarechtliche Akte messen lassen müssen. All diese Fragen sind Verfassungsfragen, die sich innerhalb der europäischen Rechtsordnung stellen, noch bevor es um Durchführungsakte der einzelnen Mitgliedstaaten geht. Dazu gehören auch Kompetenzfragen, insbesondere die der Kompetenzverteilung im Rahmen des Verfassungsverbunds zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, die in dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ihren Ausdruck findet. Hier finden sich auch Parallelen zu der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court. Deswegen muss man den EuGH richtigerweise als einen Supreme Court betrachten, also eine Mischung von oberstem Gericht und Verfassungsgericht. Dabei überwiegt die Funktion als oberstes Gericht: von den rund 700 Rechtssachen, die allein der EuGH jedes Jahr entscheidet, verhandeln wir vielleicht 10-20 Rechtssachen, die wirklich streitige Fragen des europäischen Verfassungsrechts, der Kompetenzverteilung oder des Verhältnisses zu den nationalen Rechtsordnungen oder dem Völkerrecht betreffen. Deswegen kämpfe ich gegen das deformierte Bild an, der EuGH sei ein Verfassungsgericht auf EU-Ebene oder ein zweites Straßburg, auch wenn wir die Rechtsprechung aus Straßburg natürlich beachten. Dazu sind wir nach Art. 6 EUV ja auch gehalten.

Gerade gegenüber der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gibt es allerdings in einzelnen Mitgliedstaaten erhebliche Vorbehalte. Sehen Sie hier eine Gefahr auch für Ihr eigenes Gericht? Und welche Möglichkeiten gibt es, als Gericht auf eine solche Skepsis zu reagieren?

Der EuGH ist deutlich stärker, als es gelegentlich nach außen hin wahrgenommen wird, Teil eines echten Verfassungsverbundes. Wenn wir eine verfassungsrechtliche Frage zu entscheiden haben, wie etwa kürzlich in Google Spain oder in Digital Rights Ireland und Seitlinger, dann studieren wir als Richter zuvor ausführlich die verfassungsrechtliche Rechtsprechung aller Mitgliedstaaten und analysieren die jeweiligen verfassungsrechtlichen Traditionen mit Hilfe unseres wissenschaftlichen Dienstes. Zweitens schauen wir natürlich auch nach Straßburg. Und dann gehen wir ähnlich vor, wie im common law, und machen eine Form von distinguishing. Dabei bleibt aber natürlich das EU-Recht der Maßstab. Im Grundrechtebereich ist unser verbindlicher Maßstab die Grundrechtecharta; diese erwähnt aber wiederum explizit die von mir skizzierte Methode, Verfassungstraditionen zu ermitteln und zu beachten. Durch die umfassende Analyse der verschiedenen Verfassungstraditionen erreichen wir, so hoffe ich, zumindest dieses: dass kein Mitgliedstaat von unseren Entscheidungen schockiert ist, sondern dass sie uns als ein Gericht ansehen, das jedenfalls methodisch genauso vorgeht wie die nationalen Gerichte. Natürlich kann eine Abwägung im Einzelfall zwischen EuGH und obersten Gerichten einmal unterschiedlich ausfallen. Aber auf der Methodenebene gibt es aus meiner Sicht keine radikalen Unterschiede. Das ist vielleicht das Wichtigste, um als Gericht akzeptiert zu werden. Daneben ist es natürlich auch wichtig, dass der EuGH streng im Rahmen der ihm übertragenen Zuständigkeiten bleibt und Entscheidungen nur im Bereich des Unionsrechts fällt.

Strebt der EuGH dadurch eine Harmonisierung auch verfassungsrechtlicher Prinzipien – insbesondere von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, menschenrechtlichen Standards – zwischen der Union und den Mitgliedstaaten an?

Absolut. Und dabei geht es nicht nur um die Harmonisierung solcher Standards innerhalb der Union, sondern auch darüber hinaus. Letztlich wollten wir mit dem Kadi-Urteil auch einen Beitrag zur Entwicklung des Völkerrechts leisten. Man muss sich hier nichts vormachen: die EU ist ein Block von 28 wichtigen Staaten, und wir als Rechtsprechungsorgan dieses wichtigen Blocks signalisieren der Weltgemeinschaft, dass sich gezielte Sanktionen des Sicherheitsrats am Rechtsstaatsprinzip messen lassen müssen. Das heißt: jeder Rechtsakt des Völkerrechts muss sich an bestimmten Grundprinzipien messen lassen, und dieser Grundprinzipien bedarf es auch in der Völkerrechtsordnung. Die Staaten dürfen nicht blind völkerrechtlichen Verpflichtungen folgen. Das wäre sehr gefährlich, und alle Staaten, die Erfahrungen mit einer Diktatur gemacht haben, wissen um die Gefahr, Rechtspflichten zu folgen, ohne diese zu hinterfragen. Das Völkerrecht selbst muss essentielle Menschenrechte und das Rechtsstaatsprinzip achten. Dieses Signal, das durch unser Kadi-Urteil an die Vereinten Nationen ausgesandt wurde, ist dort auch aufgenommen worden. Dort findet seitdem ein Prozess statt, um rechtsstaatliche Elemente zu stärken. Dieser Prozess ist nicht einfach, aber er geht doch in die richtige Richtung. Ich meine also, dass unser Urteil die Entwicklung rechtsstaatlicher Standards auch auf völkerrechtlicher Ebene durchaus befördert hat.

Auch wenn es unter 193 Mitgliedstaaten ungleich schwieriger wird, sich auf ein kohärentes Verständnis von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit oder gar Demokratie zu einigen: sollte das die Vision sein?

Ganz pragmatisch ist es wohl unmöglich, die bestehenden Spannungen komplett zu überwinden. Wäre es wünschenswert? Das ist eine andere Frage. Es geht darum, neuen Situationen, die bei der Gründung der Vereinten Nationen 1945 durch die Charta nicht vorhersehbar waren, zu begegnen. Wenn also nach 9/11 der Sicherheitsrat Maßnahmen beschließt, ohne entsprechenden Rechtsschutz bereitzustellen und es auch kein Gericht auf internationaler Ebene gibt, das dieser Entwicklung Einhalt gebietet, dann müssen wir einen solchen Impuls von einer anderen Ebene aus setzen. Und hier hat nun der EuGH, gleichsam stellvertretend für seine 28 Mitgliedstaaten, eine Grenze gezogen: bestimmte Einschränkungen von Menschenrechten und rechtsstaatlichen Standards sind nicht hinnehmbar. Dadurch entstehen Wechselwirkungen im Mehrebenensystem, angestoßen von den Mitgliedstaaten. Man sollte im Übrigen aufhören – ich habe das in einigen Schriftsätzen gelesen – zu fragen, ob der EuGH hier das Völkerrecht gebührend beachtet hat, das ist nicht die Frage. Sondern es geht hier um ein verfassungsrechtliches Prinzip des EU-Rechts, das möglicherweise verletzt wird.

Ist ein solches Wechselspiel auch heute noch im Verhältnis zwischen nationalen Verfassungsgerichten und dem EuGH denkbar?

Es gibt natürlich Stimmen, die sagen, wenn eine Konstellation wie in Kadi zwischen der EU-Rechtsebene und dem Völkerrecht möglich ist, dann muss es auch zwischen der EU-Rechtsebene und der nationalen Ebene möglich sein. Das ist zwar theoretisch richtig. Aber hier sehen Sie doch die grundlegende Bedeutung unserer Methode, vom gemeinsamen Kern der mitgliedstaatlichen Verfassungen auszugehen. Sollten wir anfangen – ich hoffe, das wird nicht passieren – Entscheidungen zu treffen, die keine Rücksicht auf den Kern der jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassungen nehmen, dann ist es natürlich möglich, dass sich nationale Verfassungsgerichte hiergegen auflehnen. Allerdings ist die Integration innerhalb der EU schon soweit fortgeschritten, dass eine solche Situation etwa im Grundrechtebereich kaum mehr vorstellbar ist.

 

Alle Beiträge des Symposiums erscheinen auch auf dem Verfassungsblog.

 

Cite as: Hannah Birkenkötter und Koen Lenaerts, “’Dass der EuGH als internationales Gericht angesehen wird, ist ein großes Missverständnis’”, Völkerrechtsblog, 10 December 2014, doi: 10.17176/20170125-143748.

Authors
Hannah Birkenkötter

Hannah Birkenkötter is an Associated Research Fellow at the Chair of Public Law and Legal Philosophy (Prof. Dr. Christoph Möllers) at Humboldt University Berlin, and currently a Visiting Scholar at the Law Department at Instituto Tecnológico Autónomo de México (ITAM) in Mexico City.

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