Auch ein Versagen der Staatengemeinschaft
Zu den aktuellen Kampfhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach
Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach ist zum ersten Mal seit den frühen 1990er Jahren wieder auf breiter Front eskaliert, beide Staaten befinden sich im „Kriegszustand“ und beschuldigen sich gegenseitig die Feindseligkeiten eröffnet zu haben (s. dazu näher hier). Dieser Beitrag beleuchtet die völkerrechtlichen Hintergründe und nimmt Stellung zur Rechtmäßigkeit des aktuellen Handelns Armeniens und Aserbaidschans.
Der Konflikt hat seinen Hintergrund in der sowjetischen Nationalitätenpolitik Stalins. Dieser entschied in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, das vorrangig von Armeniern besiedelte Gebiet Bergkarabach inmitten Aserbaidschans der Aserbaidschanischen SSR zuzuschlagen, ohne die Bevölkerung zu fragen. In den Wirren der Auflösung der UdSSR brach der Konflikt mit völkermordartigen Exzessen wieder auf und es kam zu einem blutigen Krieg zwischen den beiden Staaten Armenien und Aserbaidschan. Die Auseinandersetzung brachte eine ethnische Säuberung durch die praktisch vollständige Vertreibung der aserbaidschanischen Einwohner (25 %) Bergkarabachs und die Ausrufung des eigenständigen „Staates“ Bergkarabach mit sich.
Die Rechtswidrigkeit der Schaffung der Republik Bergkarabach
Die Geschehnisse werfen eine Reihe völkerrechtlicher Fragen auf, die nun erneut Bedeutung erlangen. Vor allem ist die Grundlage für die Ausrufung des „Staates“ Bergkarabach problematisch, denn man berief sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Dies ist jedoch nicht einschlägig, da es sich bei den Einwohnern Bergkarabachs um ethnische Armenier und nicht um ein Volk handelt. Sie sind eine nationale Minderheit in Aserbaidschan und können somit Minderheiten- und Menschenrechte beanspruchen, die zum Beispiel im Rahmen einer Autonomieregelung für das Territorium verwirklicht werden können. Die Schaffung eines eigenen Staates durch eine Minderheit widerspricht zudem dem Grundsatz des uti possidetis, der bei der Auflösung der UdSSR zur Anwendung kam und besagt, dass der Nachfolgestaat die Grenzen der vorherigen Gliedstaaten der UdSSR akzeptieren muss. Dies war allgemein anerkannt, so nahm es auch Russland 1993 hin, dass die Krim einen Teil der Ukraine bildete.
Die Schaffung des „Staates“ Bergkarabach wurde zudem durch die Anwendung militärischer Gewalt seitens Armeniens erreicht. Zwar behauptet Armenien, es handle sich um eine Entscheidung der lokalen Bevölkerung, aber sie konnte nur durch die regulären Streitkräfte Armeniens umgesetzt werden. Zudem besetzte Armenien noch sieben weitere Provinzen Aserbaidschans, um eine Landverbindung zwischen der Exklave Bergkarabach und seinem Staatsgebiet herzustellen. Ohne die Unterstützung und militärische Absicherung Jerewans wäre der „Staat“ nicht lebensfähig. Auch hier in den Bergkarabach umgebenden Gebiet Aserbaidschans kam es zu Vertreibungen der lokalen Bevölkerung. Dieses Handeln ist folglich Armenien zuzurechnen und stellt eine schwere Verletzung des Gewaltverbots aus Art. 2 (4) der UN-Charta dar.
UN-Resolutionen und Verhandlungen unter der Ägide der OSZE
Als Konsequenz dieser Ereignisse kam es zu einem Bruch des internationalen Friedens und zu einer Bedrohung der regionalen Sicherheit. Folglich wurde der UN-Sicherheitsrat mit dem Fall befasst. Der Rat verabschiedete 1993 vier Resolutionen [822, 853, 874, 884 (1993)], die die Einstellung der Kampfhandlungen, die Beendigung der Okkupation durch den Abzug der armenischen Streitkräfte und die Rückkehr der Vertriebenen fordern. Beachtung verdient, dass die Resolutionen nicht unter Kapitel VII UN-Charta angenommen wurden, obwohl es sich zweifellos um einen Bruch des Friedens im Sinne des Art. 39 UN-Charta handelte. Der Grund für diese Widersprüchlichkeit liegt auf der Hand: Der Rat hätte sich einig sein müssen, wer für den Konflikt verantwortlich ist und mit Sanktionen zu einem rechtstreuen Verhalten veranlassen müssen. Dazu kam es wegen der Uneinigkeit der Sicherheitsratsmitglieder nicht. Gleichwohl entfalteten die Resolutionen Rechtswirkung, weil klare Forderungen aufgestellt wurden und diese gemäß Art. 25 UN-Charta zu befolgen sind.
Armenien entsprach diesen Forderungen nicht, so dass sich nun die Frage gestellt hätte, auf welchem Weg der Sicherheitsrat die Befolgung erzwingen würde. Das Problem wurde dadurch umgangen, dass die Konfliktbearbeitung in die Hände der Konferenz/Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE/OSZE) gelegt wurde. Dies ist nach Kap. VIII UN-Charta möglich, denn diese Regionalorganisation ist ebenfalls ein System kollektiver Sicherheit. Allerdings stehen ihr keine Zwangsmittel zur Verfügung, sondern sie beschränkt sich auf Verhandlungen. Die KSZE berichtete seit 1992 über die Situation in der Region und die Sicherheitsrat-Resolutionen von 1993 basieren auf diesen Informationen. Der Sicherheitsrat legte in seinen Resolutionen fest, dass er weiterhin mit dem Konflikt befasst sein werde, den Aktivitäten der KSZE/OSZE jedoch Vorrang einräumen wolle. Das bezog sich vor allem auf die OSZE-Minsk-Gruppe, die aus elf Staaten (darunter die Regionalmächte Russland und Türkei, aber auch Deutschland) besteht und 1992 gebildet wurde. Die Minsk-Gruppe vermittelte 1994 einen Waffenstillstand, der den zu diesem Zeitpunkt erreichten militärischen Frontverlauf festschrieb. Dies war zweifellos ein Erfolg, allerdings blieben weitere Fortschritte bezüglich der Beendigung der Okkupation und der Rückkehr der Vertriebenen aus. Sämtliche Verhandlungen drehten sich im Kreis, ohne eine wirkliche Konfliktbearbeitung zu erreichen.
Vom „eingefrorenen“ zum „heißen“ Konflikt
Die Staatengemeinschaft tendierte in den letzten Jahren dazu, das Problem als „eingefrorenen Konflikt“ zu betrachten. Wie falsch diese Einschätzung ist, zeigten Vorfälle an der Waffenstillstandslinie, zuletzt besonders heftig 2016, die nun, mit der Ausrufung des Kriegsrechts durch Armenien und Aserbaidschan, auf einen Höhepunkt zusteuern. Es ist offensichtlich, dass die Nicht-Umsetzung der Sicherheitsratsresolutionen von 1993 zu dieser Zuspitzung beigetragen hat. Hier wäre konsequenteres Handeln nötig gewesen. Schließlich verlangt auch Kapitel VI UN-Charta eine friedliche Beilegung von Streitigkeiten. Dies entspricht der Erkenntnis, dass die Fortdauer von Konflikten jederzeit zu gewaltsamen Ausbrüchen führen kann. Einen „eingefrorenen Konflikt“ durch ein Waffenstillstandsabkommen zu unterbrechen, aber weiterhin köcheln zu lassen, ist nicht nur falsch, sondern widerspricht auch dem Gebot der Streitbeilegung durch die UNO. Zudem hat auch die Minsk-Gruppe versagt. Sie hat geduldet, dass sich sowohl Armenien als auch Aserbaidschan vor allem mit russischen Waffen aufrüsteten und so die labile Sicherheitslage immer gefährlicher wurde. Hinzu kommt, dass Russland in Armenien (als einzigem Nachfolgestaat der UdSSR) Militärbasen unterhält und daher ein starkes eigenes regionales Interesse hat. Dies kollidiert nun mit Interessen der Türkei, die Aserbaidschan unterstützt. Insgesamt handelt es sich um eine gefährliche Zuspitzung in einer Region, die mit vielen anderen Konflikten befasst ist und die allesamt auf Europa ausstrahlen.
Wünschenswert wäre daher, dass sich insbesondere die EU stärker als Friedensstifter hervortut und die Minsk-Gruppe aus der Patt-Situation herausführt. Dabei gilt es in Betracht zu ziehen, dass die erneuten Gewaltanwendungen beider Seiten nicht gerechtfertigt werden können. So können sich weder Aserbaidschan noch Armenien auf Art. 51 UN-Charta berufen und Selbstverteidigung geltend machen, da sie an die insofern dem Selbstverteidigungsrecht vorgehende Verpflichtung zur friedlichen Streitbeilegung aus dem Waffenstillstandsabkommen gebunden bleiben. Zwar könnte argumentiert werden, dass Aserbaidschan einen Angriff auf Bergkarabach als Teil seines Territoriums nicht hinnehmen muss. Die Faktenlage ist in dieser Hinsicht allerdings aktuell unklar, keiner der kolportierten Angriffe Armeniens erreicht die notwendige Schwelle eines bewaffneten Angriffs. Es muss daher vor allem sichergestellt werden, dass die Kampfhandlungen nicht weitere Opfer hervorbringen und den Hass vergrößern. Sinnvoll wäre ein Angebot der EU – und wegen russischer Empfindlichkeiten nicht der NATO – „Blauhelme“ in eine Pufferzone zwischen die Kampfparteien zu entsenden.
Hans-Joachim Heintze ist Professor für Völkerrecht am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum.