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Alles richtig gemacht?

Das EGMR-Urteil zum Luftangriff im Kundus

10.03.2021

Nun ist es endgültig: Der EGMR hat am 16. Februar 2021 entschieden, dass Deutschland seiner Aufklärungspflicht gemäß der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) im Zusammenhang mit dem Angriff im Kundus in ausreichendem Maße nachgekommen ist (Hanan v. Germany, application no. 4871/16). Dieses Urteil ist ebenso wichtig wie richtig, da es verdeutlicht, dass die Erfüllung der Aufklärungspflicht auch bei Auslandseinsätzen überprüfbar ist. Diese Pflicht beinhaltet jedoch – und auch das hat EGMR deutlich gemacht – kein Recht auf das gewünschte Ergebnis.

Die Hintergründe

In der Nacht zum 4. September 2009 befahl der damalige Bundeswehr-Oberst K. den Angriff auf zwei von den Taliban geraubte Tanklaster durch US-amerikanische Kampfflugzeuge. Die Bundeswehr schätzte die Zahl der Toten auf 91, darunter auch viele zivile Opfer. Die Bundesrepublik zahlte den Hinterbliebenen jeweils 5.000 € als sog. „humanitäre Hilfeleistungen”, die ausdrücklich freiwillig – also ohne Anerkenntnis einer Rechtspflicht – erfolgten. Der Vorfall, auch bekannt als „Kundus-Affäre“, sorgte für große öffentliche Bestürzung und wurde in der Folge juristisch wie politisch eingehend untersucht.

Die Pflicht zur effektiven Aufklärung nach Artikel 2 EMRK

Abdul Hanan verlor bei dem Angriff zwei Söhne im Alter von acht und zwölf Jahren. Da ihm die Aufklärungsmaßnahmen der Bundesrepublik nicht weit genug gegangen waren, legte er Beschwerde beim EGMR ein. Dabei rügte er die Verletzung der prozessualen Verpflichtungen nach Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Dieser garantiert vornehmlich das Recht auf Leben und verpflichtet die Mitgliedstaaten zugleich, im Falle einer Tötung effektive Untersuchungen einzuleiten (McCann and Others v. UK). Die Pflicht zur Aufklärung verlangt von den Staaten ein wirksames, unabhängiges Justizsystem. Dessen Ausgestaltung muss grundsätzlich ermöglichen, dass der Sachverhalt festgestellt, die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen und den Opfern (d.h. den Hinterbliebenen) angemessene Wiedergutmachung geleistet werden kann (vgl. Fergec v. Croatia, Rn. 32, Anna Todorova v. Bulgaria, Rn. 72; Kotelnikov v. Russia, Rn. 99-101). Die Beurteilung des Gerichtshofs bezieht sich dabei auf den jeweiligen Einzelfall, nicht auf das Justizsystem als solches (vgl. Valeriy Fuklev v. Ukraine, Rn. 67). Nach seiner Rechtsprechung müssen die Untersuchungsergebnisse auf einer gründlichen, objektiven und unparteiischen Analyse aller relevanten Umstände beruhen (Hanan v. Germany, Rn. 203). Hierfür ist eine effektive, unabhängige, öffentliche, die Familien der Opfer einbeziehende und zeitnahe Aufarbeitung notwendig. Die Staaten verfügen dabei allerdings über einen Einschätzungsspielraum für die konkrete Ausgestaltung (Hanan v. Germany, Rn. 207-209; Mustafa Tunç and Fecire Tunç v. Turkey, Rn. 225).

Aufklärungsmaßnahmen sind dann effektiv, wenn sie geeignet sind, zu klären, ob die angewandte Gewalt unter den gegebenen Umständen nach dem jeweils einschlägigen rechtlichen Regime gerechtfertigt war (Hanan v. Germany, Rn. 202). Es geht bei der Aufklärungspflicht allerdings nur darum, die umfassende Klärung dieser Frage zu ermöglichen, nicht aber um die Beantwortung dieser Frage selbst. Ob die in Rede stehende Gewaltanwendung gerechtfertigt war oder nicht, hat somit keinerlei Einfluss auf die Aufklärungspflicht. Die Nichterfüllung der Pflicht zur effektiven Aufklärung stellt eine eigenständige Verletzung des Art. 1 i. V. m. Art. 2 EMRK dar (Öneryıldız v. Turkey, Rn. 148; Šilih v. Slovenia, Rn. 153-154). Der Staat kann also gegen diese Pflicht verstoßen, ohne ursprünglich das Recht auf Leben aus Art. 2 EMRK verletzt zu haben. Umgekehrt kann der Staat aber auch das Recht auf Leben verletzt haben, ohne die Pflicht zur effektiven Aufklärung zu verletzen. Das in Art. 2 EMRK verbürgte Recht auf effektive Aufklärung enthält also kein Recht auf ein bestimmtes Ergebnis, sondern garantiert rechtsstaatlich notwendige Verfahren zur Aufklärung möglicher Verstöße (Hanan v. Germany, Rn. 202; Nachova and Others v. Bulgaria, Rn. 160; Al-Skeini and Others v. UK, Rn. 166; and Mustafa Tunç and Fecire Tunç v. Turkey, Rn. 173). Für die Aufklärungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Kundus-Affäre sah der Gerichtshof diese Voraussetzungen zurecht als erfüllt an (Hanan v. Germany, Rn. 236).

Die Untersuchungen des Generalbundesanwalts

Mehrere, voneinander unabhängige Instanzen hatten sich des Falles angenommen und sich mit den rechtlichen wie tatsächlichen Hintergründen des Luftangriffes befasst, darunter die obersten Ankläger/-innen sowie die obersten Verfassungswächter/-innen der Bundesrepublik. Durch die intensive Befassung des Generalbundesanwaltes mit dem Fall wurde eine gründliche und damit effektive strafrechtliche Verfolgung sichergestellt. Am 16. April 2010 hatte der Generalbundesanwalt das strafrechtliche Verfahren gegen K. gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, da keine Anhaltspunkte für einen Verstoß gegen das VStGB oder das StGB vorlägen. Der Generalbundesanwalt nahm an, dass K. nicht mit zivilen Opfern rechnete, sondern im Gegenteil davon ausging, dass die Tanklaster durch die Taliban als „rollende Bomben“ gegen das eigene Lager eingesetzt werden könnten. Damit habe der Vorsatz zur Verwirklichung der einschlägigen Straftatbestände gefehlt. Darüber hinaus habe der Angriff keinen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dargestellt. Selbst wenn mit mehreren Dutzenden zivilen Opfern hätte gerechnet werden müssen, hätte dies aus der insoweit maßgeblichen ex-ante-Perspektive bei einer taktisch-militärischen Betrachtung nicht außerhalb jeden Verhältnisses zu den erwarteten militärischen Vorteilen gestanden (Verfügung des Generalbundesanwalts vom 13. Oktober 2010, 3 BJs 6/10-4).

Der EGMR sah in seiner Urteilsbegründung berechtigterweise keinen Anlass, an der Bewertung des Generalbundesanwaltes zu zweifeln (Hanan v. Germany, Rn. 216). Die Einschätzung des Generalbundesanwaltes konnte durch objektive Umstände und Beweise bestätigt werden, beispielsweise durch Audioaufnahmen des Funkverkehrs zu dem ausschlaggebenden Zeitpunkt. Ebenso konnte nachgewiesen werden, dass K. mindestens sieben Anrufe mit einem Informanten geführt hatte, um auszuschließen, dass sich zivile Opfer am Zielort des Luftangriffes befanden (Hanan v. Germany, Rn. 216). Ein Klageerzwingungsantrag, den Hanan gegen die Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch den Generalbundesanwalt stellte, wurde am 16. Februar 2011 vom OLG Düsseldorf als unzulässig zurückgewiesen (Az. III-5 StS 6/10). Der EGMR führte dazu aus, dass die Anwendung der Zulässigkeitsvoraussetzungen mit der gefestigten Rechtsprechung der inländischen Gerichte konform gewesen sei und dass das Berufungsgericht eine gründliche Überprüfung der von der Klage geführten Beweise vorgenommen habe (Hanan v. Germany, Rn. 221).

Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts

Die Aufklärungspflicht Deutschlands sei auch deswegen erfüllt, weil das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit gehabt hätte, die Einstellung des Ermittlungsverfahrens aufzuheben (Hanan v. Germany, Rn. 222). Dem ist zuzustimmen: Diese Möglichkeit des Bundesverfassungsgerichts wirkt als wichtiger Mechanismus zur Gewährleistung einer effektiven Aufarbeitung. Das Bundesverfassungsgericht sah dazu in seinem Beschluss vom 19. Mai 2015 (2 BvR 987/11) über die Verfassungsbeschwerde Hanans jedoch keinen Anlass, da die Einstellung des Ermittlungsverfahrens verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Auch diese Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts wurde vom EGMR nicht kritisiert, was insbesondere auf den bestehenden Ermessensspielraum der Staaten bei der Ausgestaltung ihrer Aufklärungsarbeit zurückzuführen ist.

Die Bedeutung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses

Schließlich erläuterte der EGMR auch, dass die Befassung des Bundestag-Untersuchungsausschusses (in der besonderen Form des sich selbst konstituierenden Verteidigungsausschusses nach Art. 45a Abs. 1, 2 GG) ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit für den Fall indiziere, was wiederum für die Erfüllung der Aufklärungspflicht der Bundesrepublik spreche (Hanan v. Germany, Rn. 235). In der Tat ist das Gewicht des Untersuchungsausschusses nicht zu verkennen. Er ist das schärfste Schwert der Opposition und somit auch ein wichtiger Garant für eine umfassende und unabhängige Aufarbeitung. Mit diesem Ausschuss wurde der Fall über die justizielle Befassung hinaus auch parlamentarisch aufgearbeitet. In diesem Zusammenhang ist auch die Wechselwirkung zwischen justizieller und parlamentarischer Bearbeitung zu betonen: Auf der einen Seite werden dem Untersuchungsausschuss die Akten der strafrechtlichen Untersuchungen zur Verfügung gestellt. Auf der anderen Seite können die beteiligten Staatsanwaltschaften auch Akten des Untersuchungsausschusses anfordern, wenn sich (neue) Anhaltspunkte für Vorgänge von strafrechtlicher Relevanz ergeben. Auf diese Weise wird ebenfalls den Anforderungen einer effektiven Aufklärung Rechnung getragen.

Durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses wurde eine zusätzliche, von den regulär zuständigen staatlichen Stellen unabhängige und von den demokratisch gewählten Vertreter/-innen des Volkes durchgeführte Auseinandersetzung gewährleistet, die insgesamt der effektiven Aufklärung zuträglich war. Darüber hinaus dient eine parlamentarische Auseinandersetzung mit dem Vorfall dem Dialog über die nationale Umsetzung menschenrechtlicher Standards zwischen den staatlichen Institutionen – repräsentiert durch die Regierungsvertreter/-innen – und der Zivilgesellschaft, vertreten durch die Parlamentarier/-innen. Zwar fanden viele Sitzungen des Ausschusses aufgrund begründeter Geheimhaltungsinteressen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Vorfall unter Heranziehung der relevanten Beweismaterialien insbesondere auch unter den kritischen Augen der Oppositionspolitiker/-innen aufgeklärt wurde. Der Öffentlichkeit steht darüber hinaus der rund 600-seitige Abschlussbericht zur Verfügung. Durch diesen Austausch mit der Öffentlichkeit wird der Diskurs über langfristigen und strukturellen Optimierungsbedarf militärischer Vorgehensweisen und ihrer Aufklärung auch über den konkreten Einzelfall hinaus angestoßen.

Staatshaftung bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr?

Spannend bleibt jedoch die Frage der Staatshaftung bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr.

Nach der Rechtsauffassung der Bundesregierung kommen Ansprüche wegen Amtspflichtverletzungen in bewaffneten Konflikten generell nicht in Betracht. Diese Auffassung wurde vom BGH bestätigt (Az. III ZR 140/15). Das Bundesverfassungsgericht hat die grundsätzliche Anwendbarkeit der Amtshaftung jüngst zwar offengelassen, jedoch verfassungsrechtliche Zweifel an der bisherigen Praxis angemeldet (Az. 2 BvR 477/17). Es kann in der Tat bezweifelt werden, ob rein freiwillig erfolgte Zahlungen im Falle rechtswidriger Tötungen mit dem Grundgesetz und den menschenrechtlichen Standards der EMRK im Einklang stehen. Denn auch der EGMR verlangt in diesen Fällen eine angemessene Wiedergutmachung (vgl. Fergec v. Croatia, Rn. 32, Anna Todorova v. Bulgaria, Rn. 72; Kotelnikov v. Russia, Rn. 99-101). Im Kundus-Fall sind jedoch sowohl die Gerichte als auch der Generalbundesanwalt davon ausgegangen, dass schon keine Amtspflichtverletzung bzw. kein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht seitens Oberst K. vorlag.

Eine positive Signalwirkung

In jedem Fall entfaltet das Urteil des EGMR eine immense positive Signalwirkung: Auslandseinsätze der Vertragsstaaten finden nicht in einem „rechtlichen Vakuum“ statt, sondern bleiben anhand der Maßstäbe der EMRK überprüfbar. Es ist nicht Aufgabe des EGMR, den Vertragsstaaten die detaillierte Gestaltung ihrer Aufklärungsarbeit vorzugeben, aber seine Kontrolle stellt sicher, dass bei dieser Arbeit rechtsstaatlichen und grundrechtlichen Standards entsprochen wird. Auf diese Weise findet der EGMR die richtige Balance in der Abwägung zwischen menschenrechtlichen Anforderungen und staatlichen Souveränitätsansprüchen in Bezug auf die Gestaltung ihres Rechtssystems.

Auch die Einbeziehung politischer Aufklärung in die üblicherweise vor allem justiziell verstandene Aufklärungspflicht und die Anerkennung des Gerichts dieser öffentlichen Untersuchungen ist zu begrüßen. Insofern könnte das Urteil vielleicht sogar grundsätzlich etwas zur Fortentwicklung der Aufklärungspflichten unter der EMRK verstanden werden. Obwohl das Urteil gegen den Beschwerdeführer ausgefallen ist: Der EGMR hat zu Recht die Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Europa auch in Zeiten bewaffneter Konflikte betont.

 

Die Autorin dankt Angelika Fülbier für den anregenden Austausch im Zuge der Recherchen für den Beitrag.

Author
Theresa Bosl

Theresa Bosl is a legal candidate at the Higher Regional Court of Berlin and a PhD candidate at Ruhr University Bochum’s Faculty of Law.

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