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Deutschland als amicus curiae

Zur Debatte um die Staatlichkeit Palästinas als Voraussetzung der Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs

24.02.2020

Palästina ist seit 2015 Mitglied des Rom-Statuts (RS) des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Durch seinen Beitritt spielte Palästina den Ball in der kontrovers diskutierten Frage der eigenen Staatlichkeit dem Gerichtshof zu, was diesen nun vor rechtliche und faktische Hürden stellt. Die Chef–Anklägerin (AK) des IStGHs Bensouda hat nach Abschluss einer Voruntersuchung erklärt, dass die Voraussetzungen zur Einleitung einer Situationsermittlung bzgl. möglicher in Palästina begangener Verbrechen vorliegen. Nichtsdestotrotz bat sie den IStGH ihre Entscheidung dahingehend zu überprüfen, ob dessen Gerichtsbarkeit besteht, was voraussetzt, dass Palästina ein Staat ist. Über den Kunstgriff den Mitgliedsstaaten des RS (MS) als amicus curiae Stellungnahmen zur Staatlichkeit Palästinas bis zum 14. Februar 2020 zu ermöglichen, eröffnete der IStGH ein breites Forum zur Diskussion dieser Frage. Die Bundesrepublik Deutschland legt in diesem Rahmen die Rechtsauffassung dar, Palästina besitze „noch keine Staatlichkeit“. Im Folgenden wird die Bedeutung dieser Einordnung durch Deutschland kritisch beleuchtet.

Bereits 2012 hatte Palästina die Gerichtsbarkeit des IStGH gem. Art. 12 Abs. 3 RS anerkannt. Art. 12 Abs. 3 RS erlaubt es auch Nichtmitgliedsstaaten sich der Jurisdiktionsgewalt des IStGH zu unterwerfen und die Ausübung seiner Gerichtsbarkeit in Bezug auf spezifische Verbrechen anzuerkennen. Zu diesem Zeitpunkt lehnte der damalige AK des IStGHs Moreno-Ocampo ein Ermittlungsbegehren der palästinensischen Autonomiebehörde mangels Staatlichkeit Palästinas jedoch ab. Palästina trat dem RS sodann einige Zeit später gem. Art. 125 Abs. 3 RS durch Hinterlegung der Ratifikationsurkunde beim Generalsekretär der Vereinten Nationen bei, der das Inkrafttreten des RS für den Staat Palästina 60 Tage nach Hinterlegung der Urkunde gem. Art. 126 Abs. 2 RS zum 1. April 2015 feststellte. Nach Art. 125 Abs. 3 RS steht „[d]ieses Statut […] allen Staaten zum Beitritt offen.“ Daneben erkannte Palästina die Strafhoheit des IStGH in Bezug auf mutmaßliche Verbrechen Israels gegen Palästinenser in den besetzten Gebieten der Westbank, des Gazastreifens und Ostjerusalems erneut durch Hinterlegung der Anerkennung der Gerichtsbarkeit gem. Art. 12 Abs. 3 RS an. Beide Schritte waren kumulativ notwendig, um auch mögliche Verbrechen vor dem Beitritt Palästinas der Jurisdiktion des Gerichthofs zu unterwerfen. Obwohl die Vertragsstaaten zum Beitrittszeitpunkt gem. Art. 119 Abs. 2 RS die Rechtmäßigkeit des Beitritts überprüfen konnten, schwiegen sie und äußerten sich insbesondere auch nicht zum Problem der Staatlichkeit Palästinas.

Auf Antrag Palästinas vom 22. Mai 2018 bestätigte AK Bensouda am 20. Dezember 2019, dass die Voraussetzungen für die Einleitung einer Situationsermittlung nach Art. 53 Abs. 1 Rom-Statut (RS) vorliegen. Demnach kann die AK Ermittlungen einleiten, wenn die ihr vorliegenden Informationen den hinreichenden Verdacht begründen, dass ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen begangen wurde, das von gewisser Schwere ist und die Ermittlung im Interesse der Gerechtigkeit liegt. Obwohl dazu im vorliegenden Fall nicht einmal die Autorisierung des IStGH notwendig war, beantragte sie am 22. Januar 2020 gem. Art. 19 Abs. 3 Rom-Statut (RS) dessen Feststellung seiner Jurisdiktionsgewalt im Rahmen einer „Vor-Vorermittlung“. Dieses Novum dient insoweit als Absicherung der AK, um ressourcensparend Ermittlungen durchführen zu können. Dies erscheint unter dem Aspekt einleuchtend, dass die AK bei nicht vorhandener Jurisdiktionsgewalt des IStGH zeitlich und personell aufwendige Ermittlungen vermeiden kann. Die AK begründet die Zweckmäßigkeit ihres Überprüfungsantrages gem. Art. 19 Abs. 3 RS mit Hinweis auf Fragen der Prozessökonomie, Feststellung der Kooperation der Staaten und des Ermittlungsumfangs sowie der Notwendigkeit der Stellungnahmen von Opfern und der MS. Der IStGH verfügt über kein Exekutivorgan, das Anordnungen durchsetzen kann und ist für effektive Ermittlungen auf die Kooperation der Vertragsstaaten angewiesen, die nach dem neunten Teil des RS zur Zusammenarbeit verpflichtet sind. Wenn nun aber mehrheitlich die MS die Staatlichkeit Palästinas ablehnen, so ist praktisch keine Kooperation zu erwarten. Daneben ist zu beachten, dass der Eckpfeiler des Tätigwerdens des IStGH das Vorliegen der Jurisdiktionsgewalt ist. Diese setzt ihrerseits voraus, dass auf dem Territorium eines Vertragsstaates oder durch eine(n) Staatsangehörige(n) eines Vertragsstaates ein Kernverbrechen begangen wurde. Der IStGH verkündete am 28. Januar 2020, dass er den Antrag der AK annimmt und lud Staaten ein gem. Regel 103 der Verfahrens- und Beweisordnung des IStGH eine Stellungnahme als amicus curiae bezüglich des Vorliegens seiner Jurisdiktionsgewalt abzugeben. Letztere ist untrennbar mit der Einordnung Palästinas als Staat verknüpft. Auch wenn der IStGH unabhängig ist, bleibt er von politischen Einflüssen nicht unberührt und wird sich in seiner Entscheidung maßgeblich an der Einordnung der MS orientieren. Sollte die Mehrheit der MS die Staatlichkeit Palästinas ablehnen, so wird der IStGHs seine Jurisdiktion bzgl. der Situation in Palästina verneinen. Zwar kann die AK dennoch weiterhin Ermittlungen aufnehmen, dies erscheint aber in Anbetracht ihrer Bitte um Einschätzung der „Erfolgsaussichten“ der Situation durch die MS und den IStGH unwahrscheinlich.

Umso verwunderlicher ist es, dass die Bundesregierung kundgetan hat, der IStGH habe mangels Staatlichkeit Palästinas keine Jurisdiktionsgewalt. Diese Positionierung ist mit Blick auf die deutsche Historie und der damit verknüpften besonderen deutsch-israelischen Beziehung verständlich, juristisch aber kaum haltbar: Der allgemeine Rechtsgrundsatz der acquiescence, basierend auf dem Prinzip „qui tacet consentire videtur si loqui debuisset ac potuisset“, besagt, dass, wer schweigt, zuzustimmen scheint, wenn er hätte reden müssen und können. Der vom Internationalen Gerichtshof bereits im Jahre 1951 im Fisheries Fall (Großbritannien gegen Norwegen) herangezogene Grundsatz (para. 139) besagt, dass ein Protest eines Staates immer dann notwendig ist, wenn zumindest zwei Staaten über ihre Rechtsansicht streiten, vorausgesetzt, dass eine Reaktion auf Grund der Interessenlage vom betroffenen Staat erwartet werden durfte. Reagiert die betroffene Partei gar nicht, so scheint Sie mit der Rechtsauffassung der anderen Partei einverstanden zu sein.

Zwar lag der IGH Entscheidung ein völlig anderer Sachverhalt zu Grunde, dennoch kann dieser allgemeine Rechtsgrundsatz auf den vorliegenden Fall vor dem IStGH übertragen werden: Die MS haben seit dem Beitritt Palästinas zum RS vor fünf Jahren zur Frage seiner Staatlichkeit geschwiegen. Prozessual hätten sie innerhalb einer Drei-Monats-Frist des Art. 119 Abs. 2 RS die Versammlung der MS einberufen können, um über streitige Fragen in Bezug auf die Anwendbarkeit und Auslegung des RS zwischen den Vertragsparteien zu diskutieren. Dies war damals naheliegend und notwendig. Zum einen hatte der Generalsekretär der Vereinten Nationen erklärt, dass der Staat Palästina dem RS beigetreten ist. Zum anderen stufte Israel die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde als „einseitige Handlung“ Palästinas ohne Begründung weiterer Verbindlichkeiten ein und weitere Nicht-MS zum RS, wie die USA drohten als Reaktion auf Palästinas Beitritt zum RS Sanktionen an. Erst recht hätten unter diesen Umständen die MS reagieren müssen. Da diese jedoch schlichtweg schwiegen, ist eine jetzige Einordnung Palästinas als Nichtvertragsstaat im Rahmen von amicus curiae Stellungnahmen widersprüchlich. Nachdem nunmehr Palästina beinahe fünf jahrelang durch die Verpflichtungen aus dem RS gebunden wurde, muss aus Rechtssicherheitsgründen auch dessen Berechtigung zur Verfahrenseinleitung volle Wirksamkeit entfalten können. Gem. Art. 21 Abs. 1 Nr. 3 RS hat der IStGH auch allgemeine Rechtsgrundsätze innerhalb seiner Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, sodass er argumentieren könnte, dass Palästina vollwertiges Mitglied des RS ist.

Es bleibt abzuwarten, wie sich der IStGH positionieren wird, aber eine negative Entscheidung könnte einen Schneeballeffekt verursachen, da palästinensische Versuche mit diplomatisch-juristischen Mitteln den Menschenrechtsschutz im Rahmen des Völkerstrafrechts durchzusetzen, an politischen Erwägungen scheitern würden.

 

Özgen Özdemir ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum und Doktorandin an ihrer juristischen Fakultät. Kontakt: oezgen.oezdemir@rub.de

 

Dieser Post erscheint als Teil einer Zusammenarbeit zwischen dem IFHV und dem Völkerrechtsblog.

 

Cite as: Özgen Özdemir, Deutschland als amicus curiae – Zur Debatte um die Staatlichkeit Palästinas als Voraussetzung der Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs, Völkerrechtsblog, 24. Februar 2020, doi: 10.17176/20200224-225342-0.

Autor/in
Özgen Özdemir , Bochum

Özgen Özdemir ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der Ruhr-Universität Bochum und Doktorandin an ihrer juristischen Fakultät.

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