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Wind of change in New York?

Die diesjährigen Richterwahlen zum IGH und die Implikationen für das Machtgefüge der Vereinten Nationen

24.11.2017

Am Ende ging es ganz schnell. Nach einem tagelangen Machtpoker um den verbleibenden freien Platz am IGH zog Großbritannien seinen Kandidaten, den amtierenden Richter Sir Christopher Greenwood, zurück. Der Weg war frei für die Wahl des indischen Kandidaten Dalveer Bhandari, ebenfalls amtierender Richter in Den Haag. Zuvor wurden bereits vier der fünf im Jahr 2018 frei werdenen Richterstellen am IGH besetzt. Wiedergewählt wurden der amtierende Gerichtspräsident Ronny Abraham (Frankreich), Vizepräsident Abdulqawi Yusuf aus Somalia sowie der Brasilianer Augusto Cançado Trindade. Erstmalig an den IGH gewählt wurde Nawaf Salam, der langjährige ständige Vertreter Libanons bei den Vereinten Nationen.

Zwischen Greenwood und Bhandari bestand dagegen ein Patt: Während ersterer auf eine Stimmenmehrheit im Sicherheitsrat bauen konnte, unterstützen die Staaten der Generalversammlung mehrheitlich Bhandari. Da nach Art. 10 Abs. 1 IGH-Statut für die Wahl jedoch eine absolute Mehrheit sowohl in der Generalversammlung als auch im Sicherheitsrat erforderlich ist, konnte sich zunächst keiner der beiden Kandidaten durchsetzen. Kurz vor Beginn der zwölften Abstimmungsrunde dann das Einknicken Großbritanniens. Um Generalversammlung und Sicherheitsrat nicht weiter zu belasten, zöge Großbritannien seinen Kandidaten zurück, so der britische Botschafter Rycroft (vgl. auch hier).

Großbritanniens Macht in VN bröckelt

Für Großbritannien ist die zweite schwere diplomatische Niederlage in diesem Jahr damit besiegelt. Bereits im Juni konnte der Inselstaat trotz größter diplomatischer Anstrengungen nicht verhindern, dass die Generalversammlung eine für Großbritannien pikante Gutachtenanfrage an den IGH (Art. 96 Abs. 1 VNCh) stellt. Inhalt der Anfrage: Die Rechtmäßigkeit des Dekolonialisierungsprozesses in der ehemaligen britischen Kolonie Mauritius, insbesondere betreffend die Chagos-Inseln (A/RES/71/292). Wenngleich Zweifel an der Zulässigkeit der Gutachtenanfrage angesichts der fehlenden Zustimmung Großbritanniens verbleiben (siehe hier und hier), stimmte die Generalversammlung letztlich mit großer Mehrheit für den Antrag.

Auch das Scheitern Greenwoods ist für Großbritannien besonders schmerzhaft. Erstmals in der Geschichte des Gerichtshofs wird kein britischer Richter am IGH vertreten sein (siehe auch hier). Und das trotz bester Ausgangslage: Traditionell stellen die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates eigene Richter am IGH. Auch der bisherige Regionalproporz sprach für Großbritannien. Zwar verlangt das Statut des Gerichts keine regionalen Quoten bei der Verteilung der Richterplätze. Dennoch ist nach Art. 9 IGH-Statut bei den Wahlen “darauf zu achten, dass […] eine Vertretung der großen Kulturkreise und der hauptsächlichen Rechtssysteme der Welt” gewährleistet ist. Darauf aufbauend wurden die Richterplätze – wie auch die nichtständigen Sitze im Sicherheitsrat – auf fünf Weltregionen verteilt. Nach dieser Tradition hätte Asien bei der diesjährigen Wahl nur ein Platz zugestanden. Beobachter gingen daher von einem Rennen zwischen dem libanesischen Kandidaten Salam und eben Bhandari aus. Dennoch mussten letztlich Greenwood und Bhandari nach den ersten Wahlrunden in die Verlängerung.

Mit Bhandari setzte sich am Ende “der” Kandidat der Generalversammlung durch. Dies zeigt, dass viele Staaten nicht mehr willens sind, die veralteten Privilegien der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates zu akzeptieren. Dass Großbritannien Opfer dieses Unmuts wurde, verdeutlicht die seit dem Brexit schwindende Macht Großbritanniens auf internationaler Ebene.

Indien feiert historischen Erfolg

Für Indien ist die Wiederwahl Bhandaris dagegen ein großer, vielleicht der größte Erfolg auf der internationalen Ebene überhaupt. Im Gegensatz zu Großbritannien befand sich der Milliardenstaat in einer ungünstigen Ausgangslage. Mit dem Kandidaten aus dem Libanon schien es auf einen Zweikampf um “den” freien asiatischen Platz hinauszulaufen. Zudem hatte das Land zunächst sogar erwägt, auf die Verteidigung seines Platzes am IGH zu verzichten. Einen Umschwung brachte das mittlerweile am IGH anhängige Verfahren gegen Pakistan, in welchem Indien wohl mit einem “eigenen” Richter am IGH vertreten sein möchte. Als schließlich auch Indiens Kampagne um eine Richterstelle am Internationalen Seegerichtshof erfolgreich verlief, setzte die Regierung alle Hebel in Bewegung, die Wiederwahl Bhandaris sicherzustellen. Mit Erfolg: Im Verlauf der Abstimmungsrunden stimmten immer mehr Staaten in der Generalversammlung für Bhandari. In der letzten Abstimmungsrunde vor dem Rückzug Großbritanniens konnte der indische Kandidat nahezu zwei Drittel der Stimmen auf sich vereinen.

Aufgrund der demokratischen Tendenz in Pattsituationen zugunsten des Kandidaten der Generalversammlung bahnte sich ein indischer Sieg an. Letztlich scheiterte auch der britische Versuch, einen – noch nie zuvor genutzten – Vermittlungsausschuss nach Art. 12 IGH-Statut zur Auflöung der Pattsituation zu bilden. Es wurde klar, dass sich Großbritannien dem Willen der Generalversammlung beugen würde.

Die dann folgende Wahl Bhandaris setzt eine Reihe großer personalpolitischer Erfolge Indiens auf internationaler Ebene fort: Neben der erfolgreichen Kampagne um eine Richterstelle am Internationalen Seegerichtshof konnte Indien im November 2016 auch seinen Kandidaten für die Völkerrechtskommission durchsetzen. Als damals 33-Jähriger war Aniruddha Rajput der jüngste Bewerber, der jemals in das VN-Nebenorgan gewählt wurde.

Nicht nur ein Sieg Indiens

Doch die (Wieder-)Wahl Dalveer Bhandaris an den IGH ist mehr als nur Ausdruck der seit dem Brexit bröckelnden Machtposition Großbritanniens in den Vereinten Nationen oder der wachsenden Bedeutung Indiens auf der internationalen Bühne. Sie ist auch eine Niederlage Europas, das einen Platz am IGH verliert. Sie ist vor allem aber eine Niederlage des Sicherheitsrates und insbesondere dessen ständiger Mitglieder, von denen Großbritannien ein für sicher geglaubtes Privileg abhanden kommt.

Der Ausgang der diesjährigen IGH-Wahlen hat schließlich einen besonderen symbolischen Charakter: Mit Indien setzte sich der Staat gegen Großbritannien und Sicherheitsrat durch, der seit Jahren im Zentrum der VN-Reformbestrebungen steht (siehe das jüngste Statement der G4-Staaten).

Freilich müsste für eine Reform des Sicherheitsrates die Charta geändert werden, was die Zustimmung aller ständigen Mitglieder voraussetzt (Art. 108 VNCh, zur Möglichkeit einer Revision der Charta siehe Art. 109 VNCh). Insoweit verbleiben diese in einer mächtigen Position. Die Reformbefürwörter scheinen sich mit dem Status quo jedoch nicht zufrieden zu geben. Der Erfolg Indiens hat gezeigt, dass Staaten auch unter der jetzigen Charta mittels der Generalversammlung den Interessen der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates entgegentreten können. Die Wahl Bhandaris könnte ein Präzedenzfall sein. Sie hat den Reformbefürwortern Rückenwind verliehen.

 

Richard Dören ist studentische Hilfskraft am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht im Arbeitsbereich von Prof. Dr. Anne Peters.

 

Cite as: Richard Dören, “Wind Of Change in New York? Die diesjährigen Richterwahlen zum IGH und die Implikationen für das Machtgefüge der Vereinten Nationen”, Völkerrechtsblog, 24. November 2017, doi: 10.17176/20171124-161145.

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Richard Dören
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