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Sind die USA noch an den INF-Vertrag gebunden?

02.03.2019

Der Vertrag über die Beseitigung nuklearer Mittelstreckensysteme (sog. INF-Vertrag, Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) wurde noch während des Kalten Krieges zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion geschlossen und ist seit dem 1. Juni 1988 in Kraft. Er verbietet den USA und seit dem Zerfall der UdSSR der Russischen Föderation als deren Fortsetzungsstaat sowie gegenwärtig noch den früheren Sowjetrepubliken Kasachstan, Ukraine und Weißrussland den Bau und den Besitz landgestützter, atomar bewaffneter Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern.

US-Präsident Trump kündigte am 20. Oktober 2018 am Rande einer Wahlkampfveranstaltung an, dass die USA wegen angeblicher Verstöße Russlands gegen den INF-Vertrag beabsichtigen, sich aus diesem zurückzuziehen. Die USA wie auch die NATO werfen Russland vor, einen Marschflugkörper, der durch den INF-Vertrag verboten ist, entwickelt, getestet und in seine Streitkräfte eingeführt zu haben.

Am 4. Dezember 2019 erklärte US-Außenminister Pompeo, dass die USA ihre Verpflichtungen aus dem INF-Vertrag nach Ablauf einer einseitig gesetzten Frist von 60 Tagen suspendieren werden, sollte sich Russland innerhalb dieser Frist nicht (wieder) vertragskonform verhalten (s. hier). Einen Tag vor Ablauf dieser Frist informierte US-Außenminister Pompeo am 1. Februar 2019 die Öffentlichkeit darüber, dass die USA wegen Russlands unveränderten vertragsbrüchigen Verhalten mit Wirkung ab dem 2. Februar 2019 ihre Verpflichtungen aus dem INF-Vertrag nun definitiv suspendieren werden. Tags darauf teilten die USA formal Russland und den übrigen Vertragsstaaten des INF-Vertrages in Übereinstimmung mit Art. XV II INF-Vertrag ihre Absicht mit, in sechs Monaten vom INF-Vertrag zurücktreten zu wollen (s. hier).

Rücktritt

Art. XV II 1 INF-Vertrag räumt jeder Vertragspartei ein Rücktrittsrecht ein: „Each Party shall, in exercising its national sovereignty, have the right to withdraw from this Treaty if it decides that extraordinary events related to the subject matter of this Treaty have jeopardized its supreme interests.” Vorrangig erfolgt der Rücktritt von einem völkerrechtlichen Vertrag nach Maßgabe des jeweiligen Vertrages, vgl. Art. 54 lit. a) Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (WÜRV). Art. XV II 1, 2 INF-Vertrag verlangt neben dem Vorliegen eines Rücktrittsgrundes für die wirksame Ausübung des Rücktrittsrechts die Mitteilung der Rücktrittsabsicht gegenüber der anderen Partei bzw. den anderen Parteien sechs Monate vor dem eigentlichen Rücktritt. Ihre Rücktrittsabsicht teilten die USA am 2. Februar 2019 den anderen Vertragsparteien des INF-Vertrages mit. Die Beurteilung eines hinreichenden Rücktrittsgrundes – sog. „extraordinary events“ wie es in Art. XV 1 INF-Vertrag heißt – liegt wohl weitestgehend im alleinigen Ermessen der zurücktretenden Partei. Hierauf deutet Art. XV II 1 INF-Vertrag hin, wonach das Rücktrittsrecht „in exercising its national sovereignty” ausgeübt wird und die Entscheidung darüber, ob „extraordinary events […] have jeopardized […] supreme interests” der zurücktretenden Partei „vorbehalten” ist („if it decides”). Um dennoch eine gewisse außerrechtliche Kontrolle der Entscheidung der zurücktretenden Partei durch die öffentliche Meinung und andere Staaten, insbesondere die verbleibenden Vertragsparteien zu gewährleisten, schreibt Art. XV II 3 INF-Vertrag vor, dass in der Mitteilung über die Rücktrittsabsicht zumindest die „extraordinary events“ ausdrücklich benannt werden müssen. Die Grenzen zulässiger Ermessensausübung dürften erst dann überschritten sein, wenn der Rücktritt vollkommen anlasslos erfolgt und in keinerlei inhaltlichem Zusammenhang mit dem Gegenstand des INF-Vertrages, dem Verbot atomarer Mittelstreckenraketen, steht. Die USA begründen ihre Rücktrittsabsicht im Wesentlichen mit den aus ihrer Sicht anhaltenden Verstößen Russlands gegen den INF-Vertrag. Der Bezug der Rücktrittsabsicht der USA zum Vertragsgegenstand des INF-Vertrages ist offensichtlich. Für den Vorwurf, dass Russland gegen den INF-Vertrag verstößt, existieren, was weiter unten noch etwas näher ausgeführt werden wird, im Übrigen auch hinreichende Anhaltspunkte. Es bestehen deshalb keine ernsthaften Zweifel daran, dass die USA das ihnen zustehende Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt haben.

Suspendierung

Wegen der sechsmonatigen Kündigungsfrist des Art. XV II 2 INF-Vertrag wären die USA eigentlich noch mindestens bis zum 1. August 2019 an den INF-Vertrag gebunden. Die USA erklärten am 1. Februar 2019 jedoch nicht nur, nach Ablauf der Sechsmonatsfrist vom INF-Vertrag zurücktreten zu wollen, sondern kündigten gleichzeitig dessen Suspendierung ab dem darauffolgenden Tage an. Nach Art. 72 I lit. a) WÜRV hat die Suspendierung eines völkerrechtlichen Vertrages zur Folge, dass die „Vertragsparteien, zwischen denen der Vertrag suspendiert ist, in ihren gegenseitigen Beziehungen während der Suspendierung von der Verpflichtung, den Vertrag zu erfüllen”, befreit sind. Eine erhebliche Vertragsverletzung berechtigt nach Art. 60 I WÜRV eine Vertragspartei zu einer Suspendierung. Gemäß Art. 60 III WÜRV liegt eine erhebliche Vertragsverletzung entweder „a) in einer nach [dem jeweiligen Vertrag] nicht zulässigen Ablehnung des Vertrags oder b) in der Verletzung einer für die Erreichung des Vertragsziels oder des Vertragszwecks wesentlichen Bestimmung.” Die Wiedereinführung eines vertraglich verbotenen Waffensystems stellt eine erhebliche Verletzung des jeweiligen Verbotsvertrages dar, ist die Einhaltung des Verbots doch die wesentliche Vertragsbestimmung. Es sprechen viele Anhaltspunkte dafür, dass die Russische Föderation einen nach dem INF-Vertrag verbotenen, einsatzbereiten Marschflugkörper entwickelt hat und damit die USA zulässigerweis ihre Verpflichtungen aus dem INF-Vertrag suspendiert haben. Konkret geht es um die landgestützten Marschflugkörper der Iskander-Variante 9M729 (im NATO-Sprachgebrauch als SSC-8 bezeichnet), deren Existenz Russland erst nach langem Zögern eingeräumt hat (s. hier). Nach Erkenntnissen der USA und der NATO besitzen diese Systeme eine Reichweite von bis zu 2600 Kilometern, was die russische Seite dementiert. Einem Bericht der „New York Times“ zufolge hat Russland bereits zwei Bataillone mit diesen Marschflugkörpern ausgestattet (s. hier).

Die völkerrechtlich wirklich interessante, zugegebenermaßen etwas versteckte Frage im Zusammenhang mit der Suspendierung des INF-Vertrages durch die USA lautet nicht, ob hierfür die materiell-rechtlichen Voraussetzungen vorliegen, sondern, ob die USA nach dem INF-Vertrag überhaupt berechtigt sind, ihre Verpflichtungen zu suspendieren. Die Frage stellt sich zum einen deshalb, da Art. XV INF-Vertrag als eine besondere, zwischen den Vertragsparteien vereinbarte Regelung i.S.d. Art. 72 I am Anfang WÜRV ausgelegt werden könnte, die nicht nur den Rücktritt vom INF-Vertrag abschließend regelt, sondern auch alle anderen völkervertragsrechtlich möglichen „Beendigungstatbestände” für den INF-Vertrag ausschließt. Hiergegen lässt sich allerdings vorbringen, dass Art. XV INF-Vertrag selbst keine Einschränkung dahingehend beinhaltet, den INF-Vertrag nicht auch suspendieren zu können. Gegen die rechtliche Zulässigkeit der Suspendierung des INF-Vertrages durch die USA ließe sich jedoch desweiteren einwenden, dass eine Suspendierung während der laufenden Kündigungsfrist faktisch zu einem zeitlich früheren Rücktritt vom INF-Vertrag führt als dies in Art. XV INF-Vertrag vorgesehen ist. Es droht also durch die Suspendierung die Kündigungsfrist des Artikel XV INF-Vertrag unterlaufen zu werden. Das liegt daran, dass die Wirkungen eines Rücktritts und einer Suspendierung, wenn auch nicht identisch, so doch sehr ähnlich sind. In beiden Konstellationen entfällt die Verpflichtung den Vertrag weiter erfüllen zu müssen. Der völkervertragsrechtliche Unterschied zwischen Rücktritt und Suspendierung liegt darin, dass eine Suspendierung im Gegensatz zu einem Rücktritt einen lediglich „vorübergehenden” Beendigungscharakter hat. Vorübergehend deshalb, da der Vertrag, auch wenn er nicht weiter erfüllt werden muss, dennoch weiter bestehen bleibt und jederzeit wieder in Vollzug gesetzt werden kann. Allgemein dürfte gelten, dass die Suspendierung eines völkerrechtlichen Vertrages, der eine Rücktrittsklausel mit einer zu beachtenden Kündigungsfrist beinhaltet, erst dann die Grenze des Rechtsmissbrauchs bzw. der treuwidrigen Vertragserfüllung i.S.d. Art. 26 WÜRV überschreitet, wenn die Suspendierung bewusst darauf abzielt, die vertragliche Kündigungsfrist auszuhebeln, um den Vertrag bereits vor Ablauf der Kündigungsfrist faktisch zu „beenden”.

Die USA erklärten, ihren beabsichtigten Rücktritt vom INF-Vertrag nicht vollziehen zu wollen, sollte sich Russland bis zum Ablauf der sechsmonatigen Kündigungsfrist Anfang August 2019 wieder an den INF-Vertrag halten (s. hier). Die USA haben damit zu verstehen gegeben, dass sie noch nicht endgültig darüber entschieden haben, ob sie nach Ablauf der Kündigungsfrist auch tatsächlich vom INF-Vertrag zurücktreten werden; ihre bekundete Rücktrittsabsicht ist folglich nur vorläufiger Natur. Auch wenn die USA explizit keine ähnlich zu interpretierende Erklärung hinsichtlich ihrer Suspendierung abgegeben haben, dürfte im Wege eines „Erst-recht-Schlusses” davon auszugehen sein, dass die USA, wenn sie schon ihre Absicht zurücktreten zu wollen als eine nur vorläufige Absicht verstanden wissen wollen, sie dies „erst recht” auch in Bezug auf ihre Suspendierung als den im Vergleich zum Rücktritt sogar „schwächeren” Beendigungstatbestand beabsichtigen. Es kann demnach unterstellt werden, dass die USA den Fortbestand ihrer Suspendierung ebenso wie ihre Rücktrittsabsicht von dem Verhalten Russlands innerhalb der laufenden sechsmonatigen Kündigungsfrist abhängig machen und sie somit ihre Verpflichtungen aus dem INF-Vertrag nur vorübergehend, nämlich für die Dauer der Kündigungsfrist, suspendieren wollen. Eine solche Vorgehensweise schließt die Annahme einer rechtsmissbräuchlichen Suspendierung – wie oben dargelegt – gerade aus. Die USA waren also berechtigt, ihre Verpflichtungen aus dem INF-Vertrag zu suspendieren.

Trotz der Regelung in Art. 72 II WÜRV, wonach sich die Vertragsparteien „[w]ährend der Suspendierung aller Handlungen zu enthalten [haben], die der Wiederanwendung des Vertrags entgegenstehen könnten”, wäre eine Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen schon in der Suspendierungsphase nach hier vertretener Auffassung völkerrechtlich nicht zu beanstanden, auch wenn es sicherheitspolitisch wenig ratsam wäre. Denn jede neuerliche Stationierung US-amerikanischer atomarer Mittelstreckenraketen würde zwangsläufig ein nukleares Wettrüsten zwischen den USA und Russland auch in Europa in Gang setzen. Das Szenario einer Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen durch die USA schon in der Suspendierungsphase dürfte allerdings keine große praktische Relevanz haben, da die USA nicht in der Lage sein dürften, so rasch neue Mittelstreckenraketen in Betrieb zu nehmen. Selbst wenn ihnen das gelingen sollte, ist davon auszugehen, dass derartige Raketensysteme relativ einfach wieder demontiert werden können und somit deren Stationierung einer Wiederanwendung des INF-Vertrags i.S.d. Art. 72 II WÜRV nicht ernstlich entgegenstehen dürfte. Als zeitlicher Maßstab dafür, wie schnell solche Raketensysteme auch wieder beseitigt werden können, mögen die Erfahrungen im Zusammenhang mit der Zerstörung der US- und russischen Arsenale an atomaren Mittelstreckenraketen zu Beginn des INF-Vertrages Anfang der 1990er Jahre dienen. Für die vollständige Zerstörung von immerhin 846 US-ameri­kanischen und 1846 sowjetischen INF-Systemen wurden nicht einmal drei Jahre benötigt (s. hier).

Ein viel größeres Hindernis für eine „Wiederanwendung” des INF-Vertrages stellt vielmehr die Erklärung der Russischen Föderation vom 3. Februar 2019 dar, als Reaktion auf die US-amerikanische Rücktrittsankündigung und Suspendierung des INF-Vertrages den INF-Vertrag ihrerseits mit sofortiger Wirkung auf unbestimmte Zeit auszusetzen.

Fazit

Abschließend lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die USA aufgrund der noch nicht abgelaufenen sechsmonatigen Kündigungsfrist zwar noch nicht wirksam vom INF-Vertrag zurückgetreten sind. Da sie allerdings in zulässiger Weise gleichzeitig ihre Verpflichtungen aus dem INF-Vertrag suspendiert haben, sind sie schon gegenwärtig nicht mehr an ihre Verpflichtungen aus dem INF-Vertrag gebunden. Dass die USA durch ihre Suspendierung faktisch eine vorgezogene, so im INF-Vertrag eigentlich nicht vorgesehenen Rücktrittssituation geschaffen haben, ist rechtlich nicht zu beanstanden, da die USA die Suspendierung nicht rechtsmissbräuchlich zur „Umgehung” der Kündigungsfrist in Art. XV II 2 INF-Vertrag, sondern ihrer völkerrechtlichen Funktion gemäß als bloß vorübergehende Beendigungsmaßnahme einsetzten.

 

Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Internationales Wirtschaftsrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz von Prof. Dr. U. Fink. 

 

Cite as: Ferdinand Abbate, “Sind die USA noch an den INF-Vertrag gebunden?”, Völkerrechtsblog, 2 March 2019, doi: 10.17176/20190302-100736-0

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Ferdinand Abbate
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