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Geschichte des Völkerrechts – oder das Völkerrecht in der Geschichte?

16.09.2014

Eine Replik auf Alexandra Kemmerer und Jochen von Bernstorff

Können Völkerrechtler Historiker sein, und sollen sie das? Diese Frage, die im Zentrum des Beitrags von Alexandra Kemmerer steht, mag zunächst überraschen, denn auf den ersten Blick gibt die Geschichtsschreibung zum Völkerrecht keine großen Differenzen zwischen den Disziplinen zu erkennen. Auch historisch interessierte Juristen kennen und pflegen die üblichen methodischen Standards der historiographischen Vorgehensweise, also Quellennähe und Quellenkritik, Transparenz der Vorannahmen und der Vorgehensweise, Einsicht in die eigene Subjektivität und in den konstruierten Charakter der Narrative, mit denen aus Vergangenheit Geschichte gemacht wird.

Wenn gleichwohl zwischen Juristen und Historiker eine gewisse Sprachlosigkeit über die je eigene Beschäftigung mit der Völkerrechtsgeschichte besteht, dann liegt es vermutlich weniger an solchen methodischen Voraussetzungen als daran, dass nicht immer ganz klar wird, was genau uns am Völkerrecht interessiert, warum wir uns mit ihm beschäftigen und wie wir mit den Unterschieden umgehen wollen. Schon die innerfachlichen Diskurse, in denen über die drängenden Probleme und aktuellen Trends der Forschung entschieden wird, verlaufen zwischen Rechts- und Geschichtswissenschaft kaum parallel, vielleicht sind sie auch inkommensurabel. Die Aufforderung zum interdisziplinären Gespräch kommt da gerade recht, allzumal Interdisziplinarität ja gerade nicht eine Übernahme der je anderen Erkenntnisziele meint, sondern im Gegenteil eine Auseinandersetzung um die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des eigenen Tuns.

Dann lässt sich vielleicht auch besser verstehen, warum der viel besprochene „historiographical turn“ des Völkerrechts in weiten Teilen an der professionellen Historikerzunft vorbeigegangen ist. Das ändert sich zwar langsam, aber eine programmatische Ortsbestimmung der jüngeren Forschung, wie sie im formidablen Oxford Handbook of the History of International Law vorgenommen wird, zeigt deutlich auf, wie sehr diese Völkerrechtsgeschichte noch einem juristischen Binnendiskurs verpflichtet ist. Schon die überaus instruktiven, wissenschaftshistorisch orientierten Studien zur Geschichte des Völkerrechts zielten im Kern auf eine Grundlagendebatte über die internationale Rechtsordnung, und daran hat sich auch mit dem neuen Interesse an globalhistorischen Verflechtungen und dem postcolonial turn, wie ihn Jochen von Bernstoff auf diesem Blog diskutiert hat, wenig geändert. Mit anderen Worten: Auch wenn sich Juristen mit geschichtlichen Themen beschäftigen, verstehen sie sich in erster Linie als Juristen. Ihr Studium historischer Zusammenhänge dient vor allem dem Verständnis des Rechts, denn von dort kommt das wissenschaftliche Problembewusstsein und dort muss sich auch der historisch interessierte Völkerrechtler verorten.

Kann man Völkerrecht aus sich selbst heraus erklären?

Eine Geschichtswissenschaft, die sich gleichfalls mit dem Völkerrecht beschäftigen möchte, sieht sich also nicht nur einer einschüchternden Phalanx gelehrter juristischer Werke gegenüber, sondern muss auch darlegen, dass sie vielleicht nicht mehr, aber anderes kann als die juristische Rechtsgeschichte. Historiker verstehen, wie es der auch von Alexandra Kemmerer zitierte Jacob Katz Cogan umreißt, das Recht zunächst als „deep product“ seiner Zeit. Anstatt das Völkerrecht aus sich selbst heraus erklären zu wollen, interessiert zunächst und vor allem sein historischer Kontext.

Erst in seinem Kontext, so könnte man formulieren, erfährt das Recht seinen Sinn und seine Funktion, und erst am Kontext lässt sich ablesen, was Individuen, Gruppen oder Institutionen zu je unterschiedlichen Zeiten unter Völkerrecht verstanden haben. Welche Erwartungen und Zuschreibungen richteten sich auf das Völkerrecht, unter welchen Bedingungen und mit welchen Konsequenzen? Warum besaßen völkerrechtliche Argumente und Akteure in manchen außen-, aber auch innenpolitischen Konstellationen einen hohen Stellenwert, in anderen Konflikten hingegen nicht? Unter welchen politischen, soziokulturellen oder ökonomischen Voraussetzungen werden Ideen wie Staatengemeinschaft, internationale Gerichtsbarkeit, humanitäre Intervention etc. überhaupt erst als rechtliche Konzepte denkbar und damit realisierbar?

Um ein Beispiel zu versuchen: Eine Betrachtung der deutschen Verletzung der belgischen Neutralität im August 1914 mag in juristischer Hinsicht eindeutig ausfallen und doch den wesentlichen Punkt verfehlen, nämlich wie daraus eine Dynamik erwachsen konnte, welche den Ersten Weltkrieg letztlich zu einem Krieg um das Völkerrecht machte. Erst eine politik-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Deutung vermag zu erkennen, dass die Berufung auf das Völkerrecht, die Heiligkeit der Verträge und die Macht des geschrieben Wortes in Großbritannien vor allem deshalb ein ungeheures Momentum entwickelte, weil der Rechtsbruch der deutschen Seite als Angriff auf die Moralvorstellungen einer bürgerlichen Gesellschaft rationalisiert wurde: Die Verteidigung des Völkerrechts als Frage der Ehre! Fünfzig Jahre früher oder später wäre die Reaktion fraglos anders ausgefallen, im Ersten Weltkrieg trug sie dazu bei, den europäischen Krieg als Selbstbehauptung der Zivilisation gegen einen barbarischen Feind zu deuten und damit in Kategorien zu denken, die zuvor nur gegenüber der außereuropäischen Welt gegolten hatten.

Sicherlich, wer das Völkerrecht per se für eine Kraft zum Guten hält und an einer Erfolgsgeschichte interessiert ist, wird wenig Verständnis für eine kleinteilige Kontextualisierung haben, freilich ebenso wenig jene, die das Völkerrecht als eurozentrisch-imperialistisches Projekt anklagen. Doch Historiker tun sich mittlerweile oft schwer damit, in der historischen Entwicklung des Völkerrechts nur die Fortschritte oder Irrwege einer geschlossenen Theoriewelt zu sehen—von älteren Deutungen einer organischen Stufenfolge von spanischem, französischem, englischem usw. Zeitalter ganz abgesehen.

Es hat gute Gründe, dass die Thesen von Anthony Anghie in der Geschichtswissenschaft auf leise Vorbehalte gestoßen sind, denn so unbestritten die von ihm herausgestellte Bedeutung des Kolonialismus für das Völkerrecht ist, so sehr baut er seine Interpretation auf übermächtigen Begriffen auf, die sich im Licht archivalischer Quellen vermutlich differenzierter ausnehmen würden. Die gegenwärtige Geschichtswissenschaft ist zögerlich, historisch sehr vielgestaltige Prozesse und Verhältnisse unter allgemeinen Begriffen wie Imperialismus oder Souveränität zu subsumieren oder von diesen zugleich auf eine Realität von Machtbeziehungen zu schließen. Das spricht nicht gegen die Wirkmächtigkeit dieser Begriffe, aber es ist eine Wirkmächtigkeit, die nicht bereits mit der Theoriebildung gegeben war, sondern erst im konkreten Handeln und Sprechen von historischen Akteuren hergestellt wurde. De facto wissen wir beschämend wenig darüber, welche Bedeutung völkerrechtliche Argumente, Akteure und Netzwerke tatsächlich in der Formulierung nationaler Außenpolitiken einnahmen oder wie sie die öffentlichen Vorstellungshorizonte jenseits von Lehrbüchern und Leitsätzen prägten.

Fremdartig und erklärungsbedürftig

Es ist vermutlich der Vorteil der Geschichtswissenschaft, dass sie ihren konzeptionellen Ankerpunkt nicht ausschließlich im Recht findet, sondern in einem unspezifischen Interesse an sämtlichen seiner historischen Dimensionen. Historiker, die sich mit Fragen des Rechts beschäftigen wollen, brauchen sich in der Auswahl der eigenen Gegenstände daher auch keineswegs auf rechtswissenschaftliche Vorgaben beschränken oder die Begriffsschärfe und Systematik einer juridischen Herangehensweise nachzuahmen versuchen. Denn es geht, pointiert ausgedrückt, weniger um die Geschichte des Völkerrechts als um das Völkerrecht in der Geschichte.

Zugegeben: Einer solche Außenperspektive mag es an disziplinärer Schulung fehlen. Doch Historiker sind es gewohnt, sich ihre Untersuchungsgegenstände fachlich zu erschließen. Es lässt sich sogar ein Vorteil darin sehen, wenn juristische Begriffe, Denkmuster und Handlungen nicht durch einen disziplinären Filter gesehen und als selbstverständlich vorausgesetzt werden, sondern als fremdartig und erklärungsbedürftig erscheinen; soviel, immerhin, hat die Geschichtswissenschaft aus ihren Gesprächen mit Anthropologie und Ethnologie inzwischen gelernt. Denn: Was wissen wir wirklich über die Welt der Vergangenheit (oder auch jenseits von Europa), wenn wir sie nur durch das Raster unserer Kategorien wahrnehmen? Der historische Blick sieht mehr, wenn er die Sinnsysteme des Völkerrechts und die Praktiken seiner Vertreter nicht von innen, sondern von außen wahrnimmt.

Vielleicht verraten solche Fragen eine laienhafte Selbstüberschätzung, vielleicht können sie aber auch einen Beitrag der Geschichtswissenschaften zum interdisziplinären Gespräch sein. In jedem Fall braucht es auf beiden Seiten auch künftig einige Entschlossenheit, die andere Perspektive anzunehmen. Historiker sollten sich daran gewöhnen, dass Juristen die Geschichte ihrer Profession, sei es selbstkritisch, sei es affirmativ, als ganzheitlich und sinnhaft verstehen wollen und, um den Preis ihrer eigenen Wissenschaftlichkeit, auch verstehen müssen. Juristen wiederum müssen damit leben, dass Historiker oftmals auf einer Kontingenz des historischen Verlaufs beharren und das Völkerrecht nicht in überhistorischen Kategorien begreifen, sondern für ein Epiphänomen spezifischer soziokultureller Prozesse halten. Denn historisch denken bedeutet immer auch die Einsicht, dass nichts zwangsläufig ist und alles ganz anders sein könnte.

 

Marcus M. Payk ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dilthey-Fellow der VolkswagenStiftung am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Dieser Beitrag ist Teil der Völkerrechtsblog-Serie „Völkerrechtsgeschichten”. Der Auftaktbeitrag zur Serie findet sich hier.

 

Cite as: Marcus M. Payk, “Geschichte des Völkerrechts – oder das Völkerrecht in der Geschichte? ”, Völkerrechtsblog, 16. September 2014, doi: 10.17176/20170106-155320.

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Marcus M. Payk
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