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Die schwierige Aufgabe der Humanisierung des humanitären Völkerrechts:

Von der harmonisierenden Auslegung zur Billigung einer „nachträglichen Derogation“

17.06.2015

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) steht vor schwierigen Entscheidungen hinsichtlich der Anwendung der Konventionsrechte im bewaffneten Konflikt (vgl. Georgien gg. Russland (II) und Ukraine gg. Russland (I-III)). Für die Phase der Besetzung und die sich anschließende Phase hat der Gerichtshof in Al-Skeini und Al-Jedda die Anwendbarkeit der Konvention bereits festgestellt. In Hassan gg. Vereinigtes Königreich hat nun die Große Kammer trotz des erstmalig von einem Konventionsstaat vorgebrachten Verlangens, die Konventionsverpflichtungen im internationalen bewaffneten Konflikt für nicht anwendbar zu erklären, die komplementäre Anwendung von humanitärem Völkerrecht und EMRK im internationalen bewaffneten Konflikt bestätigt.

Dennoch ließ sich die Mehrheit der Richter*innen auf den von Großbritannien bezweckten Kompromiss einer “nachträglichen Derogation” von Art. 5 EMRK ein, indem sie dessen Normgehalt über die harmonisierende Auslegung mit dem humanitären Völkerrecht modifizierte.

Dieser Beitrag argumentiert, dass der EGMR einen präziseren Ansatz entwickeln sollte, der Situationen der Komplementarität von Situationen unterscheidet, in denen – wie hier – ein genuiner Normkonflikt zwischen humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten eine fallspezifische Vorrangregelung erfordert. Nur so kann der Gerichtshof das humanitäre Völkerrecht weiter durch menschenrechtliche Ergänzung “humanisieren”, ohne einerseits das Bedürfnis nach Rechtssicherheit und realpolitischer Praktikabilität im internationalen bewaffneten Konflikt zu konterkarieren, oder andererseits die Menschenrechte in ihren Kernbeständen zu unterminieren.

Der Normkonflikt zwischen Art. 5 EMRK und dem humanitären Völkerrecht

Während der amerikanisch-britischen Irakinvasion 2003 wurde Hassan von den britischen Truppen festgenommen und inhaftiert. Nach Befragungen durch die britischen und amerikanischen Militärs wurde er nach knapp 38 Stunden wieder entlassen. Sein Bruder rügte vor dem EGMR eine Verletzung von Art. 5 EMRK. Großbritannien argumentierte, dass es sich im Einklang mit den Genfer Abkommen verhalten hatte und die Konventionspflichten im internationalen bewaffneten Konflikt nicht anwendbar seien. Alternativ seien sie – auch unabhängig von einer formalen Derogationserklärung – im Lichte der Vorschriften des humanitären Völkerrechts zu modifizieren, jedenfalls aber auszulegen.

Der EGMR entschied im Einklang mit internationaler Rechtsprechung, dass beide Rechtsregime koexistieren (Komplementaritätsmodell) und nicht in einem Exklusivitätsverhältnis (Trennungsmodell) zueinander stehen (§§ 102, 104).

Dadurch entstand ein Normkonflikt: Die besonderen präventiven Festnahme- und Inhaftierungsrechte unter Art. 4A und 21 III. Genfer Abkommen – für einen Kriegsgefangenen – bzw. Art. 42 und 78 IV. Genfer Konvention – für einen Zivilisten – auf die sich Großbritannien bezüglich der Festnahme von Hassan berufen hatte, erfüllen keinen der in Art. 5 I 2 EMRK genannten Festnahme- und Inhaftierungsgründe. Die inhaltlich nächste Alternative, Art. 5 I 2 c) EMRK, erlaubt eine präventive Freiheitsentziehung nur zum Zwecke der Vorführung vor einer zuständigen Behörde bei hinreichendem Anlass zur Annahme, dass die Person eine Straftat begangen hat, oder dass es sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht gehindert werden muss. Während an die Inhaftierung eines Kriegsgefangenen keine Anforderungen gestellt werden, verlangt Art. 42 IV. Genfer Konvention für die Inhaftierung eines Zivilisten nur, dass sie für die Sicherheit der inhaftierenden Partei absolut notwendig ist.

Der Umgang mit dem Normkonflikt: die Entscheidung für die harmonisierende Auslegung

Allgemein kann einem solchen Normkonflikten wie folgt begegnet werden: er kann über die Annahme eines generellen Regimevorrangs abgewendet, mithilfe der harmonischen Auslegung aufgelöst oder aber über die Annahme einer fallabhängigen Normspezialität gelöst werden.

Die Anerkennung eines generellen Regimevorrangs vermied der EGMR. In Abkehr von dem Bericht der Europäischen Kommission für Menschenrechte zu Zypern gg. Türkei (1976) verwarf er eine materielle Verdrängungswirkung des humanitären Völkerrechts gegenüber der EMRK im internationalen bewaffneten Konflikt. Auch die Durchsetzung des generellen Vorrangs der Menschenrechte vermöge der Einforderung der Derogationspflicht verwarf die Mehrheit der Großen Kammer unter Bezugnahme auf die Praxis der Konventionsstaaten, keine Derogationserklärung für Auslandseinsätze abzugeben, Art. 31 III b) Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK).

Der EGMR entschied vielmehr, dem Normkonflikt mithilfe der harmonisierenden Auslegung gemäß Art. 31 III c) WVK beizukommen. Hierfür las er in Art. 5 I EMRK hinein, dass eine Inhaftierung gemäß des III. oder des IV. Genfer Abkommens konventionsgemäß sei, sofern die Inhaftierung rechtmäßig und nicht willkürlich i.S.d. Konvention erfolgte. Denn es sei das wesentliche Ziel des Art. 5 I EMRK, das Individuum vor willkürlichen Inhaftierungen zu schützen. Zudem interpretierte er auch die relevanten verfahrensrechtlichen Garantien, Art. 5 II, IV EMRK, im Lichte der Art. 43/78 IV. Genfer Abkommen. Diese verlangen lediglich eine periodische Überprüfung der Inhaftierung durch eine zuständige Behörde. Unter Verzicht auf eine gerichtliche Haftprüfung bestand der EGMR darauf, dass die Haftprüfung zügig und in regelmäßigen Intervallen stattfinde und durch eine Institution erfolge, die jedenfalls den Grundsätzen der Unparteilichkeit entspreche und ein faires Verfahren garantieren könne. An diesem Maßstab gemessen, hatte sich Großbritannien konventionskonform verhalten.

Steigerung der effektiven Durchsetzung des Menschenrechtsschutzes

Über die harmonisierende Auslegung komplementär anwendbarer Rechtsregime erreicht der EGMR eine effektive Durchsetzung der Konventionsrechte.

Die Minderheit der Richter*innen wandte gegen den Verzicht auf die formale Derogationspflicht zwar ein, dass eine modifizierende Auslegung der Konvention über Art. 31 III b) WVK zum Nachteil der durch die EMRK berechtigten Individuen nicht zulässig sei. Gegen eine implizite Rücknahme der Konventionspflichten spricht auch der Status der EMRK als „constitutional instrument“ der europäischen Rechtsgemeinschaft (vgl. Loizidou gg. Türkei, § 75). Die Entscheidung gegen eine formale Derogationspflicht scheint aber der Befürchtung geschuldet, dass die Konventionsstaaten sie als politisch realitätsfern eingestuft und nicht befolgt hätten. Dies hätte die Effektivität der EMRK geschwächt.

Zudem hat der EGMR den Kern von Art. 5 IV EMRK bewahrt, der zum Schutze der nicht derogationsfähigen Rechte selbst als derogationsfeste Garantie angesehen wird (vgl. das IAGMR Gutachten „Habeas Corpus in Emergency Situations“, § 43 und den 29. General Comment zum IPpbR, § 16). Er bestand auf die wesentlichen materiellen Garantien, die das Individuum im Verfahren vor staatlicher Willkür schützen: die Unparteilichkeit sowie die Verfahrensfairness und –zügigkeit.

Schwächung des Menschenrechtsschutzes durch die Modifikation von Art. 5 EMRK

Gleichzeitig schwächt der Gerichtshof jedoch den Menschenrechtsschutz. Zwar ist die EMRK als rechtssetzender und dem Zweck des effektiven Menschenrechtsschutz verpflichteter Vertrag grundsätzlich auf eine dynamisch-evolutive Auslegung ausgelegt (Tyrer gg. Vereinigtes Königreich). Die hierin begriffene zulässige Rechtsfortbildung stößt aber grundsätzlich an ihre Grenzen, sofern sie im Widerspruch zum in der Konvention offenkundig zutage tretenden Parteiwillen steht (vgl. Guerra gg. Italien und Johnston gg. Irland). Anders als Art. 9 IPbpR ist Art. 5 I 2 EMRK bewusst ohne das Einfallstor „willkürlich“ oder einen vergleichbaren dynamischen oder allgemeinen Begriff formuliert worden, der sich zur evolutiven Auslegung anbietet (vgl. die Conclusions der ILC Study on the Fragmentation of International Law, § 23). Wie Art. 1 und 15 EMRK zeigen, wird der internationale bewaffnete Konflikt von der Konvention erfasst. Eine Ausnahme für den internationalen bewaffneten Konflikt ist somit nicht in Art. 5 EMRK angelegt.

Über den offenkundigen Parteiwillen hinaus modifizierte der EGMR in Schalk und Kopf gg. Österreich und Öcalan gg. Türkei die Interpretation bestimmter Konventionsrechte im Einklang mit einem eindeutigen und konzertierten aktualisierten Staatenkonsens, wie er z.B. in Schalk in der Europäischen Grundrechtecharta zum Ausdruck kam. Ein vergleichbarer Staatenkonsens hinsichtlich einer geänderten Interpretation von Art. 5 EMRK fehlt aber für Hassan.

Der neuartige „accomodation“-Ansatz läuft somit, wie die Mehrheit einräumte (§ 107) und das Sondervotum kritisierte (§ 18), auf eine durch den Vortrag Großbritanniens angeleitete richterrechtliche Modifikation der Konvention hinaus, indem Art. 5 EMRK und das humanitäre Völkerrecht quasi symbiotisch zusammengeführt werden. Tatsächlich läuft dieser Ansatz auf eine informelle nachträgliche Derogationsmöglichkeit hinaus.

Ein genuiner Konflikt unterschiedlicher Funktionsrationes – Zur fallabhängigen Normspezialität

Dieses Ergebnis ist Folge des vorliegenden genuinen Normkonflikts (vgl. die ILC Study, § 42). Als genuin werden Konflikte behandelt, bei denen sich Wortlaut und Ziel zweier Normen offen entgegenstehen und daher eine harmonisierende Auslegung bzw. die systemische Integration unmöglich sind.

Die systemische Integration ist möglich, wenn eine Norm des humanitären Völkerrechts Ausdruck menschenrechtlicher Standards ist, oder wenn Normen der Genfer Abkommen durch Parallelvorschriften des menschenrechtlichen Kanons ergänzt werden können, oder in ungeregelten Bereichen, in die menschenrechtliche Pflichten in angepasster Form hineinwirken können. Auch der IAGMR wendet als „Auslegungshilfe“ für die AMRK nur solche Normen des humanitären Völkerrechts an, die einen ähnlichen Zweck verfolgen (vgl. Bámaca-Velásquez gg. Guatemala, § 209).

Die im Fall Hassan relevanten Festnahmerechte bezwecken, der Konfliktpartei das Recht des Irrtums bis zum Ende des Konflikts einzuräumen. Im Gegensatz hierzu ist es Ziel des Art. 5 EMRK, das Individuum vor einer Freiheitseinschränkung ohne stichhaltige staatliche Rechtfertigung zu schützen. Wie auch das Sondervotum betont, sind diese Normzwecke unvereinbar.

In solchen Fällen sollte der auf den Fall speziell zugeschnittenen Norm der Vorrang eingeräumt werden (so auch der Menschenrechtsausschuss, 31. General Comment, § 11 S. 2). Die Festnahme- und Inhaftierungsrechte der Genfer Abkommen schaffen einen differenzierten Ausgleich zwischen militärischer Rationalität, Praktikabilität und Humanität. Es wäre daher sachgerecht gewesen, diese im konkreten Fall als lex specialis zu behandeln. Eine harmonisierende Auslegung ist hingegen nicht möglich.

Fazit: Humanisierung des humanitären Völkerrechts in Grenzen

Die harmonische Auslegung von humanitärem Völkerrecht und Menschenrechten kann zur Systembildung eines Völkerrechts beitragen, welches durch die konstitutionelle Normschicht der Menschenrechte “humanisiert” wird. Betroffene Individuen werden befähigt, vor dem EGMR gegen im internationalen bewaffneten Konflikt erfolgte Menschenrechtsverletzungen Beschwerde einzureichen. Dies sollte jedoch nicht gegen die Grenzen der systemischen Integration bzw. der harmonisierenden Auslegung auf Vorbringen eines Konventionsstaates hin “erzwungen“ werden. Denn so lässt der EGMR – wie in Hassan de facto eine informelle ex post Derogation zu, wie sie von der EMRK nicht vorgesehen ist. Zukünftig wird der Gerichtshof daher herausgefordert sein, sachgerechter zwischen einer fallspezifischen Vorranglösung und der harmonisierenden Auslegung zu differenzieren. Nur dann kann die Humanisierung des humanitären Völkerrechts fortgeschrieben werden, ohne dass die Praktikabilität und die Rechtssicherheit des ausbalancierten Kompromisses zwischen humanitären Erwägungen und militärischer Notwendigkeit im humanitären Völkerrecht verloren gehen, und ohne dass die Menschenrechte über Gebühr in ihrer Schutzwirkung eingeschränkt werden.

 

Jannika Jahn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.

 

Cite as: Jannika Jahn, “Die schwierige Aufgabe der Humanisierung des humanitären Völkerrechts: Von der harmonisierenden Auslegung zur Billigung einer „nachträglichen Derogation“”, Völkerrechtsblog, 17 June 2015, doi:10.17176/20170918-165410.

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Jannika Jahn
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