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Die „rules of the game“ der Rule of Law-Förderung

20.02.2015

Eine Replik auf Matthias Kötter

Ein Durchbruch: Nach über 60 Jahren des juristischen Engagements in der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) verspricht die „zweite Generation“ internationaler Rule of Law-Förderung, die Defizite der bisherigen Ansätze zu überwinden. Ein veränderter Fokus, neue Methoden, angemessene Anreizstrukturen und mehr Sensibilität für den Kontext sollen dazu beitragen, endlich messbare Fortschritte zu erzielen. Auf der Grundlage konkreter Problemanalysen werden lokale Reformen gefördert, die vor allem auch informelle Rechtsdurchsetzungsmechanismen integrieren. So können langsam Strukturen wachsen, die für die betroffenen Bevölkerungen eine spürbare Rechtsstaats-Dividende realisieren.

Was soll gegen solch einen praxisorientierten und zugleich theoretisch reflektieren Ansatz einzuwenden sein? Wenn rechtsorientierte EZ funktioniert, dann wohl auf die im Beitrag von Matthias Kötter skizzierte Weise. Doch klingt die Rhetorik, die die Präsentation der „zweiten Generation“ begleitet, nicht eigentümlich vertraut? Gehört nicht der Aufruf zur Bescheidenheit, zur normativen Reflexivität und zur Effektivitätsorientierung spätestens seit den wegweisenden „Scholars in Self-Estrangement“ von David Trubek und Marc Galanter aus dem Jahr 1974 zum Standard-Repertoire der „Law and Development“- oder heute eben der „Rule of Law“-Literatur? Werden nicht in den 40 Jahren seither in regelmäßigen Abständen immer neue Paradigmen entworfen, die dann, einige Jahre später aus eben den Gründen verworfen werden, die schon den älteren Ansätzen entgegengehalten wurden: letztlich nicht wirksam, nicht reflexiv genug.

Problemlösung durch (Rechts-)Wissenschaft?

Vielleicht glaubt die entsprechende Literatur zu sehr daran, bereits mit der Bestimmung des richtigen theoretischen Paradigmas die Probleme der Praxis gelöst zu haben. Vielleicht hat sie mit „informal justice“ diesmal aber auch die richtige Formel gefunden, und es stellen sich tatsächlich Erfolge ein. Das bleibt unbedingt zu hoffen. Das Scheitern der bisherigen Ansätze darf nicht zum Zynismus verführen. Vielmehr gilt es, beständig aus den Fehlschlägen zu lernen und die Instrumente zu verfeinern. Und tatsächlich ist es ein wichtiger Schritt, bei der Rule of Law-Förderung die rechtsethnologische und -anthropologische Einsicht aufzunehmen, wonach „informelle“ Regelungen – bzw. in anderer Terminologie: der „Rechtspluralismus“ – für die Governance-Struktur einer Gesellschaft entscheidend sind. So lassen sich in Südafrika, Liberia, Indonesien oder in den zahlreichen anderen von Matthias Kötter und in der weiteren Sekundärliteratur angeführten Ländern möglicherweise informelle Rechtsdurchsetzungsmechanismen finden und stärken, die Effektivität und Wertverwirklichung nachhaltig und erfolgreich balancieren können.

Doch was können die „Scholars“ und was kann insbesondere die Rechtswissenschaft zu diesem Entdeckungsverfahren beitragen? Das Aufspüren erfolgsversprechender Strukturen setzt in jedem Einzelfall eine umfassende ethnologische und anthropologische Arbeit voraus, zu der allerdings Rechtswissenschaftler_innen meist die Ausbildung und vielfach wohl auch die Neigung fehlt (auch wenn neue Institutionen hier und hier hoffentlich Abhilfe schaffen). An die einmal identifizierten und „dicht“ beschriebenen informellen Mechanismen können dann zahlreiche Anfragen, insbesondere auch aus postkolonialer und aus feministischer Sicht, gestellt werden. Doch sind dabei ebenfalls keine einfachen Antworten zu erwarten: Wie Matthias Kötter zu Recht betont, weisen informelle Ordnungen ebenso wenig wie formelles Recht bestimmte inhärente Qualitäten auf – außer der ambivalenten Tatsache, Ordnung zu sein.

Perspektivwechsel 

Angesichts dessen könnte es sich für Rechtswissenschaftler_innen, die in westlichen Ländern an Schreibtischen sitzen und die für ihre Arbeit auf publizierte Quellen verwiesen sind, als sinnvolle Strategie erweisen, wenigstens zeitweise die Perspektive zu wechseln und den Forschungsgegenstand stärker an den eigenen Erkenntnis- und Bewertungsmöglichkeiten auszurichten. Bestimmte Dinge sind aus „unserer“ Sicht deutlich einfacher zu erforschen als andere. Existenz und Funktionieren informeller Rechtssysteme oder die Evaluation der Implementation konkreter Rule of Law-Fördermaßnahmen gehören nicht zu den uns leicht zugänglichen Wissensbeständen dieser Welt.

Solange wir uns aber nicht vor Ort begeben, werden wir im besten Fall auf die notwendig verzerrten Darstellungen dieser Phänomene in der wissenschaftlichen Sekundärliteratur und in interessengeleiteten Projektberichten verwiesen sein; im schlechtesten Fall fehlt es ganz an belastbarem Wissen. Auf solch prekärer Grundlage Theorie zu betreiben, geht mit der Gefahr einher, stets der jüngsten Mode aus der Entwicklungspraxis hinterherzulaufen, um dann, wenn sich deren Scheitern ankündigt, dies anzuprangern, Besserung zu geloben und auf den nächsten Zug aufzuspringen. Vielleicht ist es sinnvoll, in einer arbeitsteiligen Wissenschaftswelt erst einmal anderen Wissenschaften die Generierung ausreichenden Wissens und den Entwurf der Paradigmen effektiver Rule of Law-Förderung zu überlassen.

Heißt das, Jurist_innen sollten ins Glied zurücktreten? Im Gegenteil. Vielmehr treten mit einem Perspektivwechsel die Strukturen und Mechanismen der entwicklungsorientierten EZ selbst in den Blick. Damit wird „unsere“ Seite der Rule of Law-Förderung der Analyse und der normativen Kritik zugänglich. Hier lassen sich durchaus juristische Kompetenzen aktivieren: Den genuin rechtlichen Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind in den letzten Jahren die Forschungen zum Entwicklungsverwaltungsrecht bereits intensiv nachgegangen. Aber es gilt auch hier, den „informellen“ Strukturen Aufmerksamkeit zu widmen: Welche Akteure treten mit welchen Interessen in der rechtsorientierten EZ auf? Welche Bedeutung hat die Zuweisung von Kompetenzen in diesem Feld an bestimmte Ressorts, (internationale) Organisationen oder auch an Private bzw. in Privatrechtsform organisierte Institutionen? Welcher Einfluss kommt Expert_innen zu und welche Steuerungsmedien jenseits des Rechts werden hier relevant? Kurz: Was sind die „rules of the game“ der Rule of Law-Förderung?

Sicherlich lassen sich diese Fragen nicht auf der Basis der juristischen Methodenlehre beantworten. Die präzise Rekonstruktion der Rule of Law-Förderung als eines sozialen „Feldes“ wird primär eine Aufgabe für (Organisations‑)Soziolog_innen sein. Doch – um diese These zu wagen – weil in Deutschland ausgebildeten Jurist_innen das bürokratische Innenleben einer transnationalen Geberorganisation oder die Interaktion von staatlichen Förderpolitiken und den Aktivitäten von NGOs im Zweifel deutlich näher liegt als lokales Recht in Indonesien, sind die Chancen für einen ertragreichen interdisziplinären Dialog besser. In diesen Dialog kann die Rechtswissenschaft ihre spezifischen Fähigkeiten einbringen: Interesse am Detail, Sensibilität für Machtfragen, Aufmerksamkeit für „bloße“ Organisations- und Verfahrensfragen etc.

All das lässt sich dann auch auf die von Matthias Kötter beschriebene „zweite Generation“ internationaler Rule of Law-Förderung anwenden – beide Forschungsansätze schließen sich also keineswegs gegenseitig aus. Dadurch geraten etwa folgende Problemstellungen in den Blick: Welcher Instrumente bedient sich die „zweite Generation“? Welche Akteure sind hier präsent? Wie fügen sich die hier formulierten Ansprüche in das sonstige Feld der rechtsorientierten Entwicklungszusammenarbeit ein? Oder auch: Gibt es Kollisionen mit klassischen State Building-Ansätzen und wie werden diese aufgelöst?

Darin jedenfalls gleicht die rechtsorientierte Entwicklungsforschung jeder anderen Art von Forschung: Am Ende stehen mehr Fragen als Antworten.

 

Thomas Wischmeyer ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

 

Cite as: Thomas Wischmeyer, “Die „rules of the game“ der Rule of Law-Förderung”, Völkerrechtsblog, 20 February 2015, doi: 10.17176/20170203-140138.

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Thomas Wischmeyer
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1 Comment
  1. Vielleicht in diesem Zusammenhang von Interesse: “Law and development as practice and as theory – from self-estrangement to alienation” – aus rechtssoziologischer Perspektive http://barblog.hypotheses.org/832

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