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Der IAGMR und WSK-Rechte

Eine wegweisende Rechtsprechungsänderung

20.08.2018

Jüngst hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) zum ersten Mal eine direkte Verletzung des Rechts auf Gesundheit auf der Basis von Art. 26 der Amerikanischen Konvention für Menschenrechte (AMRK) erklärt. Im Fall Poblete Vilchez vs. Chile wurde unter anderem aufgrund eines ärztlichen Fehlverhaltens und einer Diskriminierung in der Erbringung medizinischer Dienstleistungen, die schließlich zum Tode des Betroffenen führten, die Verantwortlichkeit Chiles für die Verletzung des Rechts auf Gesundheit von Herrn Vilchez festgestellt. Damit hat der IAGMR seine seit rund einem Jahr eingeleitete Rechtsprechung betreffend der direkten Justiziabilität von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten (WSK-Rechte) bestätigt. Erst im August 2017 erklärte der IAGMR zum ersten Mal in seinen 40 Jahren Existenz einen Verstoß gegen diese Bestimmung. Dies geschah im Fall Lagos del Campo vs. Peru mit Bezug auf das Recht auf Arbeit. Mit dem Urteil in Poblete Vilchez wurde nun auch das Recht auf Gesundheit unter Artikel 26 gefasst. Dieser Beitrag wirft einen näheren Blick auf diese Entwicklung, ordnet sie ein und unterzieht die Argumentation des IAGMR einer kritischen Prüfung.

Der Weg von der indirekten zur direkten Justiziabilität

Der Artikel 26 der AMRK lautet:

“The States Parties undertake to adopt measures, both internally and through international cooperation, especially those of an economic and technical nature, with a view to achieving progressively, by legislation or other appropriate means, the full realization of the rights implicit in the economic, social, educational, scientific, and cultural standards set forth in the Charter of the Organization of American States as amended by the Protocol of Buenos Aires.”

Vor 2017 hat der IAGMR für lange Zeit einen Ansatz gegenüber den WSK-Rechten verfolgt, der auf deren indirekten Justiziabilität basierte. Mit anderen Worten wurden diese Rechte immer im Zusammenhang mit anderen in der Konvention verbrieften Rechte behandelt. Oft beschäftigte sich der Gerichtshof etwa mit dem Recht auf Gesundheit im Rahmen von Untersuchungen einer Verletzung des Rechts auf Leben oder auf körperliche Unversehrtheit. Fragen des sozialen Sicherheit und des Arbeitsnehmerschutzes wurden oft im Zusammenhang mit dem Recht auf Privateigentum behandelt (z. B. wenn der Staat eine Altersrente nicht gezahlt hatte), oder unter Rückgriff auf das Recht auf effektiven Rechtsschutz (z. B. wenn der Staat eine ungerechtfertigte Entlassung nicht behoben hatte) festgestellt. In den wenigen Fällen, in denen eine Verletzung von Art. 26 AMRK geltend gemacht wurde, hatte der IAGMR bislang lediglich erklärt, dass dieser Artikel eine Pflicht zur progressiven Verwirklichung beinhaltet, die mit Hinblick auf die gesamte Bevölkerung bemessen werden muss (Rn. 147 und 148). Ein Verstoß gegen diese Vorschrift wurde in keinem der Fälle bejaht.

Allerdings haben einzelne Stimmen im Gerichtshof angefangen, in Sondervoten für eine Kompetenz zur Entscheidung über autonome Verletzungen von konkreten WSK-Rechten durch Art. 26 auszusprechen (siehe hier und hier). Dazu gehört insbesondere der aktuelle Präsident des IAGMR, Richter Ferrer Mac-Gregor, der dies seit Übernahme seines Amtes fordert. Seit dem ersten Urteil, an dem er sich beteiligte, hat er mehrere ausführliche Sondervoten verfasst, in denen er sich mit diesem Thema juristisch auseinandergesetzt hat (siehe hier und hier). Im August 2017, im Fall Lagos del Campo vs. Peru, hat dann zum ersten Mal die Mehrheit der Richter diese Position übernommen. Nach der ungerechtfertigten Entlassung eines im privaten Sektor Angestellten, die von den internen Gerichten Perus nicht behoben wurde, entschied der IAGMR, dass der Staat das Recht auf “Beschäftigungsstabilität” von Herrn Lagos auf der Grundlage von Art. 26 verletzt hatte.

Die richterliche Argumentation für die Rechtsprechungsänderung

Der Gerichtshof hat diese Änderung seiner Rechtsprechung in “Lagos del Campo” auf die Unteilbarkeit und Interdependenz zwischen WSK-Rechten und zivilen und politischen Rechten gegründet. Er erklärte, dass, weil Art. 26 in dem Teil der AMRK enthalten ist, der die “staatlichen Pflichten und geschützten Rechte” umfasst, diese Bestimmung auch den allgemeinen Pflichten der Achtung und Gewährleistung von Artikel 1 und 2 der AMRK unterliegt. Der IAGMR verwies auch auf die Charta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) (Rn. 143) und auf die Amerikanische Erklärung der Rechte und Pflichten der Menschen (Rn. 144). Erstere beinhaltet eine Pflicht für die Staaten, “to devote their utmost efforts” um die Arbeitsrechte zu verwirklichen (Art. 34), während die zweite in ihrem Artikel XIV erklärt, dass “[e]very person has the right to work (…)”. Der Gerichtshof hat auch auf eine Reihe internationaler und regionaler Instrumente hingewiesen, die dieses Recht beinhalten (Rn. 145-148), wie auch 20 Verfassungen amerikanischer Staaten (Rn. 145).

Die gleiche Argumentation wurde dann nochmal im Fall Dismissed Employees of Petroperu et al. vs. Peru (vom 23. November 2017) angewendet, der auch das Recht auf Beschäftigungsstabilität nach einer Entlassung betraf. Im jüngsten Fall nun über das Recht auf Gesundheit hat der IAGMR seine juristische Argumentation daran angepasst, mit Hinweise auf Artikel 34.i, 34.l und 45.h der Charta der OAS (Rn. 106), Artikel XI der Amerikanischen Erklärung (Rn. 109) und andere internationale und innerstaatliche Instrumente, in denen dieses Recht enthalten ist (Rn. 112-115). Der Gerichtshof hat auch in diesem Urteil die Rechtsprechung zu den WSK-Rechten weiterentwickelt, indem er in dieser Hinsicht interpretierte, dass sich aus Art. 26 AMRK zwei Arten von Pflichten ergeben: zum einen der Erlass von allgemeinen Maßnahmen zur progressiven Verwirklichung von WSK-Rechten, und zum anderen der Erlass von unmittelbaren Maßnahmen zum Schutz dieser Rechte. Diese zweite Art von Pflichten sind diejenigen, die es erlaubten, die Verletzung von Art. 26 in den erwähnten Fällen zu erklären.

Einige Zweifel bleiben

Gleichwohl bestehen noch einige Zweifel an dieser Rechtsprechungsänderung, wie sie auch die Richter Sierra Porto und Vio Grossi in ihren Sondervoten zu diesen Fällen zum Ausdruck brachten. Der wichtigste Punkt bezieht sich auf das Zusatzprotokoll zur AMRK im Bereich der WSK-Rechte (das “San Salvador Protokoll”), das 1999 in Kraft getreten ist. Dieses Protokoll sieht eindeutig vor (Art. 19.6), dass die Verletzung von zwei konkreten WSK-Rechten, nämlich das Recht auf Bildung und Gewerkschaftsrechte, vor den IAGMR gebracht werden kann. Dies würde ausschließen, dass die anderen WSK-Rechte direkt vom Gerichtshof angewendet werden können. Manche argumentieren in dieser Hinsicht, dass dies rechtlich keine Bedeutung habe, weil die Bestimmungen eines Zusatzprotokolls nicht die Rechte der Konvention beschränken können, aber der IAGMR hat sich mit diesem Punkt noch nicht überzeugend befasst.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass der IAGMR die Änderung seiner Rechtsprechung nicht weiter begründet. Er hat vor allem in älteren Urteilen erklärt, dass sich aus Art. 26 keine autonome Verletzung von WSK-Rechten ableiten lasse. Sogar im Fall Acevedo Buendia et al. vs. Peru (vom 1. Juli 2009), der vom IAGMR in dieser Hinsicht als Präzedenzfall gedeutet wird, hat er nur beschlossen, dass er über die Verletzung von Art. 26 im Hinblick auf die progressive Realisierung von WSK-Rechten entscheiden kann (Rn. 102, 105 und 106), was sich aber von ihrer autonomen Verletzung unterscheidet. Der IAGMR müsste klar und zweifellos erklären, weshalb er sich jetzt von dieser Rechtsprechung trennt, sonst könnte dies die Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit im System beeinträchtigen, und somit auch dessen Legitimität schaden.

Schlussfolgerung

Wie gezeigt, hat im vergangenen Jahr eine sehr wichtige Änderung in der Rechtsprechung des IAGMR bezüglich der WSK-Rechte stattgefunden. Der Gerichtshof kann jetzt über die Verletzungen von WSK-Rechten praktisch in der gleichen Weise wie über die Verletzung von zivilen und politischen Rechten entscheiden. Bisher hat er dies nur bezüglich der Rechte auf Arbeit und Gesundheit getan, aber trotzdem dürfte diese Rechtsprechung nun als ständige Rechtsprechung gelten. Voraussichtlich wird auch die Zahl der konkreten WSK-Rechte, die unter Art. 26 AMRK fallen, in den nächsten Monaten erweitert werden.

Dies kann als positiver Schritt begrüßt werden. Vor allem aufgrund der enormen sozialen Ungleichheit in dieser Region und der Diskriminierung und Exklusion großer Teile der Bevölkerung scheint es insbesondere im interamerikanischen System notwendig, dass Verletzungen von WSK-Rechten durch den Menschenrechtsgerichtshof festgestellt und geahndet werden können. Sinnvoller als der nun eingeschlagene Weg erscheint aber, dass der IAGMR eine Brücke in diese Richtung baut, durch eine inkrementelle Rechtsprechung, die es erlaubt, auf die tatsächlichen sozio-ökonomischen Gegebenheiten der gesamten Bevölkerung Rücksicht zu nehmen. Dafür müsste der IAGMR zuerst den Fokus auf den eigentlichen Sinn und Zweck von Art. 26 AMRK legen, nämlich die progressive Verwirklichung von WSK-Rechten. Um darüber zu entscheiden könnte der IAGMR z.B. Indikatoren benutzen, wie es auch im UN-System gemacht wird, und dies würde auch erlauben, dem Staat strukturelle Maßnahmen anzuordnen, was bisher in dieser Hinsicht nicht gemacht wurde. Auf dieser Grundlage könnte man auch die direkte Verletzung von WSK-Rechten in individuellen Fällen ableiten. Im Moment scheint es eher so, als wäre der IAGMR einfach über den Fluss der WSK-Rechte gesprungen und würde noch auf wackeligen Füßen stehen. Es bleibt nun abzuwarten, wie der Gerichtshof diese Rechtsprechung im Folgenden ausgestalten wird, und ob er die verbleibenden Zweifel beseitigen kann.

 

Lucas Sánchez ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg.

 

Cite as: Lucas Sánchez, “Der IAGMR und WSK-Rechte. Eine wegweisende Rechtsprechungsänderung”, Völkerrechtsblog, 20 August 2018, doi: 10.17176/20180919-182155-0.

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Lucas Sánchez
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