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Neues Tribunal, neues Glück?

Überlegungen zur völkerstrafrechtlichen Aufarbeitung des „Islamischen Staats“

12.06.2019

Im Februar drohte U.S.-Präsident Donald Trump per Twitter an, Kämpfer der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), die sich im Gewahrsam kurdischer Milizen in Syrien befinden, freizulassen. Viele der Kämpfer sind Staatsangehörige westlicher Staaten und möchten möglicherweise in ihre Heimatländer zurückkehren. Vor diesem Hintergrund verstärkt sich die Debatte, wie der militärisch ausgetragene Konflikt mit dem IS juristisch aufgearbeitet werden soll. Sollte hierzu ein gesondertes Tribunal eingerichtet werden?

Es steht außer Frage, dass viele der Kämpfer in Kriegsverbrechen verstrickt sind. Einerseits besteht in ihren Heimatländern prinzipiell die Möglichkeit, diese abzuurteilen. Mitgliedsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) sind dazu verpflichtet: Das Prinzip der Komplementarität weist die Verpflichtung zu Verfolgung und Aburteilung von Kriegsverbrechen vorrangig den Staaten und nur subsidiär dem internationalen Gericht zu. Für nationale Gerichte ist die Strafverfolgung aber aufgrund der räumlichen Entfernung und der daher schwierigen Ermittlungen auch bei konkretem Verdacht häufig schwierig. Daher bleiben viele Rückkehrer zunächst unbehelligt. In diesem Zusammenhang äußern Sicherheitsbehörden immer wieder die Befürchtung, dass sich unter diesen Rückkehrern auch sogenannte islamistische „Gefährder“ befinden könnten.

Obwohl Deutschland völkerrechtlich verpflichtet ist, deutsche Staatsangehörige einreisen zu lassen (und ggf. hier abzuurteilen), spricht sich daher auch etwa Bundesinnenminister Seehofer für ein internationales Tribunal aus.

In der Tat sprechen einige Argumente, von Sicherheitsbedenken bis hin zu Prozessökonomie und Gerechtigkeitserwägungen (Strafverfolgung aus einer Hand, starke Transparenz der Verfahren) dafür, die Verbrechen der IS-Täter nicht in aller Welt zerstreut, sondern an zentraler Stelle und vor allem vor Ort aufzuarbeiten.

Vor diesem Hintergrund untersucht der vorliegende Beitrag, welche Möglichkeiten das Völkerstrafrecht und seine Institutionen bieten, um derartige Straftaten auf internationaler Ebene aufzuarbeiten. Sodann analysiert er anhand der besonderen Umstände des IS-Terrors, ob Lücken bestehen und, wenn ja, wie diese geschlossen werden können. Zum Schluss soll ein Ausblick gewagt werden, ob das Völkerstrafrecht von der Aufarbeitung des Konflikts insbesondere in Form eines neuen Tribunals profitieren kann oder ob die Gefahr eines Rückschritts besteht.

Die kurze Geschichte des modernen Völkerstrafrechts, beginnend bei den Tribunalen von Nürnberg und Tokio über die ad-hoc-Gerichtshöfe für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und Ruanda (ICTR), mündete um die Jahrtausendwende in der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH). Als ständiges Gericht mit Jurisdiktion über die schwersten Verstöße und Verbrechen im internationalen Recht sollte der IStGH von nun an über die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechern durch die Vertragsstaaten wachen – oder diese, so die betreffenden Staaten nicht willens oder nicht in der Lage dazu sind, in komplementärer Zuständigkeit selbst durchführen.

Es erscheint daher sehr naheliegend, dass der IStGH die IS-Angehörigen strafrechtlich verfolgen sollte. Die Zuständigkeit des Gerichts kann auf dreierlei Wegen hergestellt werden. Erstens nach dem Territorialprinzip: Der IStGH kann Taten, die auf dem Gebiet einer Vertragspartei des Römischen Statuts begangen wurden, verfolgen, Art. 12 Abs. 2 lit. a) IStGH-Statut. Schauplatz des Konflikts und damit Ort der Mehrheit der Kriegsverbrechen waren der Irak, der nicht Vertragspartei ist, und Syrien, welches das Statut zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert hat. Zwar könnten die Staaten ihr Territorium gemäß Art. 12 Abs. 3 IStGH-Statut auch ad hoc in Bezug auf den fraglichen Konflikt der Jurisdiktion des IStGH unterwerfen. Sie müssten dann allerdings befürchten, dass auch die Handlungen der eigenen Streitkräfte in den Fokus der Ermittlungen geraten. Syriens Machthaber, dem in der Vergangenheit immer wieder der Einsatz von Giftgas vorgeworfen wurde, wird dies kaum zulassen.

Zweitens kommt das Personalitätsprinzip in Frage. Entscheidend ist hier die Staatsangehörigkeit der (mutmaßlichen) Täter: Hat Ihr Heimatstaat das Römische Statut ratifiziert, können ihre Taten verfolgt werden, gleich, wo sie begangen wurden, Art. 12 Abs. 2 lit. b) IStGH-Statut. Auf dieser Grundlage führt die Anklagebehörde des IStGH derzeit Vorermittlungen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen britischer Staatsangehöriger im Irak-Krieg ab 2003. Die Verfolgung eines Teils der Täter wäre aufgrund dieses Anknüpfungspunktes wohl möglich; so haben außer Zypern alle Mitlgiedsstaaten der EU das IStGH-Statut ratifiziert.

Es wäre aber insoweit unbefriedigend, als eine große Gruppe von Tätern jedenfalls auf der internationalen Ebene „davonkämen“, nämlich diejenigen, deren Heimatstaat nicht zu den Vertragsparteien des Römischen Statuts gehört. Knüpfte man ausschließlich an das Personalitätsprinzip an, gäbe man den Anspruch einer umfassenden Aufarbeitung und Verfolgung auf.

Nach dem Personalitätsprinzip könnten zudem vor allem „Fußsoldaten“ verfolgt werden. Die wenigsten Befehlshaber oder Kommandeure des IS waren „ausländische“ Kämpfer, sondern stammen aus der Region. In der bisherigen Praxis der modernen internationalen Tribunale standen aber gerade die politisch und strategisch Verantwortlichen im Fokus des Interesses. Das soll die Verantwortlichkeit auch der Befehlsempfänger auf unterster Ebene für die von ihnen begangen Gräueltaten keinesfalls schmälern. Auch sie überschreiten die im Statut angelegten Erheblichkeitsschwellen für die Strafverfolgung durch den IStGH. Doch im Mittelpunkt stehen diejenigen, die „den höchsten Grad an Verantwortung tragen“ (IStGH-Anklagebehörde, Policy Paper on the Interests of Justice, S. 7). Gerade sie aber blieben im Falle einer Anknüpfung nach dem Personalitätsprinzip wohl außen vor.

Die dritte Möglichkeit einer Zuständigkeit des IStGH könnte diese Probleme ausräumen: Mit Hilfe einer verbindlichen Resolution in Reaktion auf einen Bruch des internationalen Friedens (Art. 39, 41, 25 VNCh) könnte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Zuständigkeit des IStGH bewirken. Aufgrund von Art. 13 lit. b) IStGH-Statut wäre das Gericht dann berechtigt und verpflichtet, die Taten in den fraglichen Gebieten zu verfolgen.

Eine solche Resolution wird es jedoch nicht geben. Schon seit Jahren blockiert die Veto-Macht Russland ein Eingreifen des Sicherheitsrates in Syrien. Und die Vereinigten Staaten, ebenfalls mit einem Veto ausgestattet, haben kürzlich Einreisesperren gegen IStGH-Ermittler verhängt und damit mutmaßlich zur Einstellung einer Vorermittlung beigetragen. John Bolton, der Nationale Sicherheitsberater der USA, bedachte den IStGH, der in den USA zuweilen auch als rogue court, als Schurkengericht, bezeichnet wird, im September 2018 mit deutlichen Worten: „Wir werden den IStGH für sich allein sterben lassen. Für uns ist der IStGH mit all seinen Zielen und Absichten bereits tot.“ Dass die Vereinigten Staaten sich für eine Überweisung des IS-Konflikts an den IStGH erwärmen können, ist vor diesem Hintergrund sehr unwahrscheinlich.

Angesichts dessen liegt die Einrichtung eines gesonderten Tribunals nicht fern.

Zu denken wäre hier zunächst an ein sogenanntes hybrides Tribunal, wie es etwa zur Aufarbeitung des Genozids in Kambodscha eingerichtet wurde. Dieses Tribunal wurde als innerstaatliches Gericht eingerichtet und wendet kambodschanisches Prozessrecht an, ist aber zum Teil mit internationalen Richtern besetzt; die Arbeit wird international unterstützt. Die Einrichtung solcher Tribunale auch im Falle des IS böte auch den Vorteil, dass nicht nur die Hauptverantwortlichen, sondern eine größere Anzahl an Tätern vor Gericht gestellt und verurteilt werden könnte. Allerdings bereitet bereits die Eingliederung eines zum Teil international besetzten Gerichts in die nationale Rechtsordnung Probleme: Mit dem Irak und Syrien sind zwei Staaten betroffen. Eine fugenlose Einbettung in beide nationalen Rechtssysteme wäre kaum zu bewerkstelligen. Denn eine internationale Verfahrensordnung und auch die Gerichtsorganisation müsste mit gleich zwei nationalen Rechtssystemen in Einklang stehen. Darüber hinaus ist eine Unterstützung der europäischen Staaten ohne Verzicht auf die Todesstrafe kaum zu machen; sowohl im Irak als auch in Syrien werden Todesurteile derzeit jedoch sowohl verhängt als auch vollstreckt. Zudem würde gerade Syrien auf eine Begrenzung des Mandats in personeller als auch in territorialer Hinsicht drängen. Würden aber anstelle einer Gesamtbetrachtung des Konflikts nur ausgesuchte Konfliktteilnehmer verfolgt, müsste sich das Tribunal dem – berechtigten – Vorwurf der Siegerjustiz stellen.

Als ein weiteres, praktisches Problem tritt hinzu, dass auch verschiedene kurdische Gruppen in der Region aktiv sind. Kurden stellen nicht nur in Syrien und im Irak, sondern auch im Iran und in der Türkei größere Volksgruppen, die zum Teil seit Jahrzehnten Autonomie oder Unabhängigkeit fordern. Wenn syrische Kurden die Einrichtung eines internationalen Tribunals fordern, dürfte gerade diese Einladung problematisch werden. Denn die wenigsten Beteiligten haben ein Interesse daran, durch offizielle Kooperation mit und vielleicht gar Anerkennung von autonomen Gruppen weiteres Öl ins Feuer zu gießen. Doch diese Gruppen haben die letzten Bastionen des IS militärisch besiegt und halten einen Großteil der ehemaligen IS-Kämpfer interniert. Ein Tribunal wird also weder mit, noch ohne die Beteiligung insbesondere der kurdischen Milizen einfach zu machen sein. Zudem ist aufgrund dieser regionalen politischen Verwicklungen unwahrscheinlich, dass eine Regionalorganisation, etwa die Arabische Liga, als „Schirmherrin“ eines solchen Tribunals fungieren würde.

Das Gelingen eines hybriden internationalen Tribunals erscheint so zumindest sehr fraglich.

Damit bliebe lediglich die Einrichtung eines weiteren ad-hoc-Tribunals nach dem Vorbild des ICTY und ICTR. Rechtlich wäre eine Einrichtung über Art. 41 VNCh weiterhin unproblematisch. Die Übernahmeklausel des Art. 13 lit. b) IStGH-Statut zwingt das Gericht zur Umsetzung einer fallverweisenden Sicherheitsratsresolution, kann aber nicht den Sicherheitsrat verpflichten, ausschließlich auf den IStGH als Mechanismus zurückzugreifen. Die anerkannte Befugnis des Sicherheitsrates zur Einrichtung von ad-hoc-Tribunalen wird durch das Verhältnis zum IStGH also nicht beschränkt.

Im Hinblick auf die Rechtsgrundlage macht es keinen Unterschied, ob der Sicherheitsrat ein neues Gericht einrichtet oder an ein bestehendes verweist – politisch aber schon. Staaten, insbesondere die Veto-Mächte, die den IStGH ablehnen und einer Verweisung entgegen stünden, könnten die Einrichtung eines weiteren Sondertribunals nutzen, um den IStGH, der ohnehin seit Jahren in der Kritik steht und bereits Mitglieder verloren hat, strukturell zu schwächen. Wenn der Sicherheitsrat ein weiteres Sondergericht beruft, können die, die es wollen, dies als Beweis der Ineffektivität des IStGH lesen. Es ist daher zumindest fraglich, ob sich diejenigen Mitglieder des Sicherheitsrates, die den IStGH weiterhin unterstützen, auf ein weiteres ad-hoc-Gericht einließen. Dies gilt insbesondere für die Veto-Mächte Frankreich und Großbritannien.

Auch in Zukunft ist es also unwahrscheinlich, dass das Völkerstrafrecht und insbesondere der IStGH durch die Aufarbeitung des IS-Terrors gestärkt werden. Denn der Sicherheitsrat wird die Situation nicht an den IStGH überweisen. Rechtlich ist es zwar möglich, ein separates internationales Tribunal einzurichten, politisch jedoch aus denselben Gründen unwahrscheinlich, die auch eine Einbeziehung des IStGH ausschließen. Im Gegenteil sollten gerade Befürworter einer Weiterentwicklung des Völkerstrafrechts mit der Einrichtung eines weiteren Tribunals vorsichtig sein: Ein solches Vorgehen droht langfristig den im IStGH verkörperten einheitlichen Ansatz zu schwächen.

Am ehesten dienlich erscheint somit die Einrichtung eines hybriden Tribunals. Doch ein solches Tribunal könnte tatsächlich ohne die Schwierigkeiten, mit denen die Tribunale in Den Haag oder auch nationale Gerichte außerhalb der Konfliktregion in ihren Ermittlungen konfrontiert werden, eine große Anzahl an Personen aburteilen. Es müsste jedoch sowohl den Irak als auch Syrien maßgeblich mit einbeziehen. Mit Blick auf Syrien sind hierzu einige Staaten nicht bereit.

Vielleicht müsste ein solches Gericht auch insgesamt vom westlich geprägten Völkerstrafrecht abrücken. Diese Entwicklung böte einerseits die Chance einer höheren Akzeptanz des Völkerstrafrechts im arabischen Raum, bärge andererseits aber die Gefahr, den universellen Geltungsanspruch des Völkerstrafrechts zu verwässern. Indes erscheint sie aus den genannten Gründen ebenfalls unwahrscheinlich.

Nach alledem erscheint, was die Stärkung, zumindest die Aufrechterhaltung des bisher im Bereich des Völkerstrafrechts Erreichten anbetrifft, am geeignetsten, erinnerten sich gerade die westlichen Staaten eines Kernprinzips des Römischen Statuts: des Prinzips der Komplementarität.

 

Simon Gauseweg ist Akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völkerrecht, Europarecht und ausländisches Verfassungsrecht an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).

 

Cite as: Simon Gauseweg, “Neues Tribunal, neues Glück? Überlegungen zur völkerstrafrechtlichen Aufarbeitung des ‘Islamischen Staats'”, Völkerrechtsblog, 12. Juni 2019, doi: 10.17176/20190612-165810-0.

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Simon Gauseweg
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