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Haben die internationalen Menschenrechte ein PR-Problem?

Zur Zukunft von Völkerrecht, Menschenrechten und Verfassungsrecht

03.11.2014

Die internationalen Menschenrechtsübereinkommen tragen wie keine anderen Rechtsakte das Versprechen einer Weltgesellschaft, einer Selbstentfaltung als Weltbürgerin und eines aufgeklärten, toleranten und friedlichen Neben- und Miteinanders in sich. In den internationalen Menschenrechtsübereinkommen strotzt das Recht vor Idealismus. Das Recht als „trockene“ Materie? Von wegen! Und ist es nicht das Faszinosum eben dieser Menschenrechte, das Jahr für Jahr eine große Zahl von Studienanfängern für die Rechtswissenschaft begeistert?

Und doch stellt sich die Frage: leiden die internationalen Menschenrechte, leidet das Völkerrecht unter einem PR-Problem? Die normative Verbindlichkeit des Völkerrechts, die weit in das innerstaatliche Recht hineinreicht, steht mitunter in einem krassen Missverhältnis zum Grad seiner Berücksichtigung bei der konkreten Rechtsarbeit. Anspruch und Wirklichkeit, verfassungsrechtlich Vorgegebenes und tatsächlich Praktiziertes fallen auseinander. Evelyne Schmid hatte jüngst auf diesem Blog das legislative Unterlassen bei der Umsetzung von Völkerrecht beklagt. Doch selbst nach einem Umsetzungsakt durch die Legislative bleiben mitunter große Teile der Rechtspraxis und –wissenschaft beim vermeintlich so viel härteren nationalen Recht und verweigern dem Völkerrecht seine Anerkennung. Zum einen besteht ein Sichtbarkeitsproblem. Völkerrechtliche Übereinkommen werden viel zu häufig schlicht nicht wahrgenommen. Zum anderen besteht aber auch ein Autoritätsproblem. Denn nicht überall, wo das Völkerrecht gesehen wird, wird es sodann auch ernst genommen.

Beispiel: UN-Behindertenrechtskonvention

Als Illustration möge ein jüngeres Menschenrechtsinstrument der Vereinten Nationen dienen: das Übereinkommen zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Das Übereinkommen datiert vom Dezember 2006, ist mit Gesetz vom 21. Dezember 2008 durch die Bunderepublik umgesetzt worden und somit immerhin auch schon fast acht Jahre in der Welt – davon knapp sechs als auch innerstaatlich bindendes Recht. Ein Kernanliegen der Konvention ist ihr erweitertes Verständnis von „Behinderung“. Die Konvention schwenkt nämlich auf einen auch sozialen Behinderungsbegriff um, der nicht mehr zwingend eine individuelle Funktionsstörung verlangt, sondern gesellschaftliches Vermeidungsverhalten infolge einer körperlichen oder geistigen Erkrankung ausreichen lässt. Dort heißt es etwa in der Präambel:

  1. e) in der Erkenntnis, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern, […]

 Art. 1 Abs. 2 UN-BRK definiert demnach:

Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

Behindert ist man also nicht, behindert wird man. Nicht der Rollstuhl macht die Behinderung, sondern der Ausschluss von sozialer Teilhabe. Treffen Menschen, die unter einer chronischen Krankheit wie etwa HIV oder Diabetes leiden, auf krankheitsbedingte gesellschaftliche Stigmata, gelten sie als behindert im Sinne der Konvention, auch wenn die Krankheit symptomlos verläuft, sich also nicht physisch manifestiert.

Das Sichtbarkeitsproblem

Nun ist die „Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ zwar verfassungsgerichtlich festgestellt. Auch hat uns Karlsruhe bekanntlich mitgegeben, dass gerade die Menschenrechtsübereinkommen als Ausdruck dieser Völkerrechtsfreundlichkeit auslegungsleitend zu berücksichtigen sind. Doch der suchende Blick nach auslegungsrelevantem Völkerrecht erscheint oftmals nur allzu flüchtig. So leider auch bei einigen – nicht bei allen, aber doch bei weit zu vielen – großen Grundgesetzkommentierungen, um nur beim Verfassungsrecht zu bleiben. Hier taucht der Begriff der Behinderung ja in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG auf und verlangt nach einer Konkretisierung. Die hergebrachte Definition des Bundesverfassungsgerichts stammt aus dem Jahre 1997. Sie stellt auf eine Funktionsbeeinträchtigung ab und ist damit enger als diejenige der UN-BRK. Allerdings lässt der Senat in jener Entscheidung ausdrücklich die Möglichkeit einer erweiternden Auslegung des Behinderungsbegriffs offen. Das Gericht hatte zwar bisher keine Gelegenheit, eine solche Erweiterung vorzunehmen. Es müsste sich indessen nicht gegen die eigene Rechtsprechung stellen, um den Vorgaben der über zehn Jahre jüngeren völkerrechtlichen Konvention zu genügen.

 Anders jedoch die Verfassungsrechtswissenschaft in einigen der wichtigsten Grundgesetzkommentare: Während man der Kommentierung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG im Maunz/Dürig allenfalls mangelnde Aktualität vorwerfen kann – der Abschnitt ist nunmehr 18 Jahre alt und konnte die UN-BRK naturgemäß nicht berücksichtigen – schweigt sich die aktuelle Auflage des Mangoldt/Klein/Starck (6. Auflage 2010) zu der Konvention gänzlich aus. Sie hält ausdrücklich an dem engen, hergebrachten Verständnis fest. Auch die neue 3. Auflage des Dreier von 2013 verweist bei der Definition der „Behinderung“ nicht auf die Konvention und verbleibt wohl bei dem Erfordernis einer Funktionsbeeinträchtigung. Keinerlei Hinweise auf die Existenz einer UN-BRK finden sich in der 13. Auflage des Jarass/Pieroth von 2014. Im neusten Sachs (6. Auflage 2011) schafft es die UN-Konvention nicht in den Haupttext. Immerhin findet sie jedoch in einer Fußnote (eingezwängt zwischen Literaturnachweisen) Erwähnung. In der Sache bleibt es zumindest unklar, ob die erweiterte völkerrechtliche Definition übernommen wird. Doch es gibt mitunter auch vorsichtigen Wandel: Während noch die 12. Auflage des Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf von 2011 die Konvention mit keinem Wort erwähnt, weist die erst kürzlich erschienene 13. Auflage auf das abweichende völkerrechtliche Verständnis von Behinderung hin, freilich wiederum ohne sich eindeutig zu einer gewandelten Verfassungsauslegung zu bekennen.

Das Autoritätsproblem

Besagtes PR-Problem tritt freilich dort verschärft zutage, wo das Völkerrecht zwar kurz gesehen, aber noch schneller wieder beiseite gelegt wird. Eindrückliches Beispiel bietet die aktuelle Kommentierung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG von Uwe Kischel in der aktuellen 2. Auflage des Epping/Hillgruber (2013). Das folgende wörtliche Zitat findet sich in der gedruckten Fassung eingerückt und in verkleinerter Schriftart; bei Beck-Online muss die neugierige Leserin „Details öffnen“ (Rn. 233.2):

„Die UN-Behindertenrechtskonvention geht möglicherweise von einem anderen Behindertenbegriff aus, der Behinderung als soziales Phänomen versteht, ihre negativen Folgen als fehlgehende soziale Zuschreibung […]. Ähnlich wie beim Begriff der Inklusion ist aber schon zweifelhaft, ob sich dies zwingend aus Text und Sinn der Konvention ergibt oder nur dem Wunsch damit befasster Menschenrechtsgruppen entspricht, zumal eventuelle Materialien zur Ausarbeitung im Vertragsvölkerrecht nur ein nachrangiges Hilfsmittel der Auslegung wären. Davon unabhängig ruft das Völkerrecht auch im Rahmen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes nur zu völkerrechtlich konformen Ergebnissen im Einzelfall auf, nicht aber zur schematischen Parallelisierung einzelner verfassungsrechtlicher Begriffe; im Gegenteil wären ev völkerrechtliche Vorgaben möglichst schonend in das vorhandene, ausdifferenzierte Rechtssystem einzupassen […].“

Man mag hier mit den besseren Gründen bereits in der Sache anderer Meinung sein. Immerhin haben sich dem bloß schöngeistigen „Wunsch“ bestimmter „Menschenrechtsgruppen“ der EuGH und das Bundesarbeitsgericht angeschlossen, letzteres im Übrigen ganz ohne Bauchschmerzen ob der Differenziertheit unseres nationalen Rechtssystems. Nur das Verfassungsrecht müsste noch folgen.

Jedenfalls beweist der überaus knappe Hinweis auf die vermeintliche Systemwidrigkeit sowie die Verbannung der UN-Konvention ins Kleingedruckte, wie sehr es den Menschenrechtsübereinkommen trotz der Görgülü-Vorgaben an messbarer verfassungsrechtlicher Autorität mangelt.

Lösungsansätze

Was tun gegen dieses vielschichtige PR-Problem? Wie können Sichtbarkeit und Autorität des Völkerrechts nicht nur abstrakt, sondern in der konkreten Rechtsarbeit verstärkt werden? Wiederum bietet die Behindertenrechtskonvention einen erwähnenswerten, weil innovativen Ansatz. So kam es infolge der Umsetzung der Konvention zur Einrichtung einer unabhängigen nationalen Monitoring-Stelle, die nicht nur wissenschaftlich publiziert, sondern auch den in den USA bereits weit verbreiteten Amicus Curiae Brief kultiviert und damit Brücken zum innerstaatlichen Recht schlägt. Wo sich Kommentare und überkommenes Fallrecht über die UN-Konvention ausschweigen, greift hier ein zusätzlicher Mechanismus, um die Sichtbarkeit des Übereinkommens auch im konkreten Einzelfall zu garantieren. Eine solche verfahrensrechtliche wie institutionelle Neuerung ist freilich nur ein erster Schritt in die (vielleicht noch völkerrechtsfreundlichere) Zukunft. Weitere müssen folgen.

 

Eine Replik zu dem Beitrag findet sich hier.

 

Alexander Tischbirek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht, und Rechtsphilosophie (Prof. Dr. Christoph Möllers) an der Humboldt-Universität zu Berlin.

 

Cite as: Alexander Tischbirek, “Haben die internationalen Menschenrechte ein PR-Problem?”, Völkerrechtsblog, 3 November 2014, doi: 10.17176/20170124-113411.

Author
Alexander Tischbirek
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6 Comments
  1. Entschuldigung: Habe in vorstehendem Beitrag “Gut, dass es Ihren Blog gibt” ganz vergessen anzufügen

    Mit freundlichen Grüssen
    Ernst U. Hofmann

  2. Gut, dass es Ihren Blog gibt !

    Die Menschen- und damit auch die Völkerrechte scheitern nicht an der Mehrheit der ja menschlich gesinnten Menschen… und damit auch an einem PR-Problem. Die globale Durchsetzung der UNO-Zielsetzungen scheitern am Verhalten der – ja via UNO-Mitgliedschaft für das Weltgeschehen verantwortlichen – Spitzenpolitiker der Mitgliedstaaten.

    Das kann ich beweisen. Als Journalist habe ich 15 Jahre nach den Ursachen der tristen Situation der Menschheit gesucht. Zu diesem Zweck habe ich (mitunter auch via “Strohmänner”) mehrere (Massen-) Petitionen eingereicht bei der EU, BRD und Schweiz. Die Stellungnahmen der Politiker haben mich derart entsetzt, dass ich eine Strafanzeige eingereicht habe gegen die gesamte Führungsriege eines massgebenden UNO-, NATO- und EU-Mitgliedstaates. Das wegen ständig wiederholtem Verstoss gegen das höchste alle Menschenrechte – nämlich die Lebensberechtigung global aller Menschen. Dazu kommt noch die willkürliche Verletzung der Völkerrechte, die ja primär aus Absatz 1 von Artikel 1 des *Internationalen Paktes der bürgerlichen und politischen Rechte” hervorgehen, der wie folgt lautet:

    *Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.”

    Faktisch alle UNO-Mitgliedstaaten haben diesen Pakt rechtsgültig unterzeichnet… und faktisch alle verantwortlichen Politiker verstossen laufend dagegen.

    Der gesamte Schriftverkehr mit den zuständigen Politikern ist samt der Strafanzeige enthalten im neuen Buch

    “Der Kampf gegen die Unmenschlichkeit wird hiermit eröffnet”

    Dabei geht es um die Aufdeckung des global grössten politischen Skandals in der mittlerweile rund 70-jährigen Geschichte der Vereinten Nationen/UNO.

  3. Lieber Alex,

    ich bin glücklich, dass du die Vernachlässigung der UN-Menschenrechtsverträge thematisierst und dabei auch noch das Zauberwort amicus curiae fällt 😉 Zur UN-Frauenrechtskonvention in der deutschen Rechtsprechung habe ich mit Frau König kürzlich ganz Ähnliches festgestellt (DÖV 20/2014).

    Ich möchte nur hinzufügen bzw. präzisieren: Dass der EuGH und auch das BAG sich dem weiten Behinderungsbegriff angeschlossen haben, ist wohl leider nur auf die besondere Stellung der BRK im Grund- und Menschenrechtsgefüge der EU zurückzuführen. Die BRK ist ja bisher der einzige Menschenrechtsvertrag, dem die EU beigetreten ist (und von den UN-Menschenrechtsverträgen beitreten kann), weswegen sie als “integrierender Bestandteil der Unionsrechtsordnung” maßgebend für die Auslegung des Sekundärrechts ist. Nachdem der EuGH den Begriff der Behinderung 2013 das erste Mal weit auslegte, sprach einer der Generalanwälte von einem “Paradigmenwechsel” (der vermutlich ohne den Beitritt zur BRK nicht stattgefunden hätte). Das BAG hat dann die BRK nicht Görgülü-mäßig als Auslegungshilfe herangezogen, sondern alles über das Unionsrecht gelöst (anders die amicus-curiae-Stellungnahme des DIMR, die primär auf die völkerrechtliche Ebene abstellte und das Unionsrecht nur zur Bestätigung anführte). Für die anderen UN-Menschenrechtsverträge besteht demnach, so fürchte ich, eher wenig Hoffnung, dass ihre mitunter weiterreichenden Konzepte ebenso unkompliziert ins deutsche Recht übernommen werden.

    Amikale Grüße aus Hamburg
    Sarah

  4. […] Eine Replik auf Alexander Tischbirek […]

  5. Das oben Gesagte gilt auch für die sozialen Menschenrechte aus dem ICESCR, der 1976 (!)ratifiziert wurde in Deutschland. Er wird selten bis nie zur Rechtsauslegung herangezogen.
    Ein schlechtes Beispiel ist das Bundesverfassungsgerichtsurteil 2014 zu Regelsatz und Existenzminimum. In der Infintisimalrechtsprechung (gerade noch so eben nicht offensichtlich unter dem Existenzminimum), die schon bei Fiskalpakt und Bankenrettung (gerade noch so eben keine Verletzung der Budgetrechte des Bundestages) zur Anwendung kam, werden soziale Rechte des ICESCR gar nicht erwähnt. Der UN-Report zur Verwirklichung der sozialen Rechte hat schon 2010 die hohe Armutsquote in Deutschland beklagt, auch und besonders bei Krankheit und im Alter. Hierzu schweigt das Gericht.

  6. Lieber Alex, vielen Dank für diesen sehr schönen Beitrag!

    Der Blog arbeitet hinsichtlich deutscher Literatur heraus, was – wie von Dir erwähnt – auch hinsichtlich der Rechtsprechung, und dies nicht nur in Deutschland, zu beobachten ist. Ich verweise hier insbesondere auf die Untersuchungen der ILA Study Group on the principles of engagement of domestic courts with international law (siehe http://www.ila-hq.org/en/committees/study_groups.cfm/cid/1039), an der ich selbst auch beteiligt bin. Die Kategorisierung der Formen von “engagement” (avoidance, contestation und alignment) sowie die weiteren Differenzierungen im Preliminary Report der Study Group sind für Deine Untersuchungen zur Literatur vielleicht von Interesse. Der Final Report wird wahrscheinlich im kommenden Jahr erscheinen und auch auf die einzelnen völkerrechtlichen Teilgebiete, einschließlich der Menschenrechte, eingehen.

    Viele Grüße

    Andreas

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