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Grotius has a long way to go

05.05.2014

Replik zum Beitrag von Matthias Kettemann

Matthias Kettemanns Auftaktbeitrag „Grotius goes Google“ wirft zentrale Fragen zur Zukunft des Völkerrechts auf und gibt Antworten, die Aufmerksamkeit verdienen – und Widerspruch. Dies ist die Funktion der Replik, des Markenzeichens des Völkerrechtsblogs: Argumente austauschen, Annahmen aufdecken, Perspektiven wechseln.

Aus meiner Perspektive, von der anderen Seite des großen Teichs, präsentiert Matthias‘ Beitrag das Internetvölkerrecht der Zukunft in bester deutscher Tradition: Geltendes Recht ist Frage der Rechtsdogmatik, rechtspolitische Argumente sind getragen vom Glauben an Gestaltungskraft und Gerechtigkeitspotential des Völkerrechts, und internationale Beziehungen sind geprägt von gemeinsamen Interessen und kooperationsvölkerrechtlichen Strukturen.

Dieser – legitimen und wichtigen – Sichtweise möchte ich hier eine völkerrechtskritische Perspektive gegenüberstellen, informiert von alternativen Methoden und konfliktreicheren Grundannahmen über internationale Beziehungen. Mit dieser Brille betrachtet stellt sich das Internetvölkerrecht als interessen- und machtdurchwirkter Flickenteppich dar, determiniert durch politische und ökonomische Ungleichheiten, widersprüchlich, hegemonial und potentiell ungerecht.

Dieses Völkerrecht mag sich schon immer mit technologischen Herausforderungen befasst haben. Doch es ist ein weiter Weg von einem Telegraphenvertrag zwischen kulturell homogenen, autokratisch regierten Nachbarstaaten im Europa des 19. Jahrhunderts zu einer legitimen, globalen Kommunikationsordnung für eine pluralistische, postkoloniale Welt. Grotius has a long way to go – und trifft auf folgende Gegenthesen und Gegenargumente:

1. Internetpolitik ist von globalen Interessenkonflikten geprägt

Ein gemeinsames globales Interesse an der Integrität und Funktionalität des Internet lässt sich weder normativ noch empirisch begründen. Normen des geltenden Völkerrechts bringen ein solches Interesse nicht zum Ausdruck, und die empirische Realität des Internets ist von Interessenkonflikten, nicht von Interessenkonvergenz geprägt.

Staatliche Internetpolitik verfolgt nationale Eigeninteressen, die mitnichten stets in der Integrität des Internets liegen. Die USA und andere potentielle Hegemonialmächte sehen das Internet seit jeher als weitere Einflusssphäre, in der sie den gleichen Herrschaftsanspruch geltend machen wie zu Land, zur See und in der Luft. Autokratische Staaten, aber auch Demokratien wie die Türkei, bringen regelmäßig ihr Interesse an der Dysfunktionalität des Internets gegenüber internen Protestbewegungen zur Geltung. Und Subsahara-Afrika sieht sich durch immer anspruchsvollere Nutzungsinteressen nur immer weiter abgehängt, weil so seine basalen Zugangsinteressen auf der Strecke bleiben.

Jenseits des Staates prallen gegensätzliche Interessen potentieller Grundrechtsträger aufeinander. Große Konzerne und kleine Internetnutzer, Start-ups und Produktpiraten, Whistleblower und Hacker ringen mit- und gegeneinander, ohne dass sich ihre divergierenden Interessen auf den gemeinsamen Nenner des „Schutzes der Integrität des Internets“ bringen ließen.

Die Rolle des Völkerrechts ist es, diese vielfältigen Interessenkonflikte zu verarbeiten – und nicht, sie durch ein Postulat der Interessenhomogenität zu verdecken. Im Idealfall stellen völkerrechtliche Verfahren und Institutionen Interessenkonvergenz her – voraussetzen können sie diese nicht.

2. Dem Internetvölkerrecht fehlt es an normativem Gehalt

Dem Völkerrecht fehlt der normative Gehalt, um nationale Internetpolitik zu „determinieren“. Die Regelungen des geltenden Internetvölkerrechts sind fragmentarisch und eignen sich für rechtsfortbildende, dogmatische Rekonstruktionen nicht. Dies gilt für souveränitätsorientierte wie für menschenrechtliche Begründungsansätze.

Die souveränitätsbeschränkende Rechtsfigur des „Kustos“ verliert mit der Fiktion des gemeinsamen globalen Interesses ihre Finalität – in wessen Interesse sollen die Staaten ihre internetbezogene Souveränität ausüben, wenn nicht in ihrem eigenen? Jedenfalls steht der Bildung souveränitätsbeschränkenden Gewohnheitsrechts die vielfältige Praxis von Eingriffen ins Internet entgegen.

Menschenrechtliche Kommunikationsfreiheiten mögen sich im Einzelfall auch auf Ausübungsvoraussetzungen erstrecken – eine Art objektiv-rechtliche „Institutsgarantie“ des Internets ergibt sich daraus aber noch nicht. Dies zeigt auch die Parallele zu traditionellen Medien:  Diese sind ebenfalls wichtig, ohne dass sich deswegen ein völkerrechtlicher Anspruch auf Zeitung, Radio oder Fernsehen durchgesetzt hätte. Im Gegenteil erlaubt (und legitimiert) etwa das Welthandelsrecht prinzipiell Chinas Medienzensur, offline wie online.

Einer Rechtsfortbildung qua Dogmatik, wie sie Matthias vorschlägt und innerhalb Deutschlands legitimerweise von Gerichten betrieben wird, fehlt im globalen völkerrechtlichen Diskurs sowohl institutionelle Praxis als auch politische Überzeugungskraft. Diese ergeben sich vielmehr aus rechtspolitischen Prozessen, Allianzen und Bewegungen – welche die Völkerrechtswissenschaft legitimerweise mit Argumenten de lege ferenda unterstützen kann.

3. Die Steuerungsfähigkeit des Internetvölkerrechts ist begrenzt

Rechtsdogmatik wie Rechtspolitik müssen von der Einsicht getragen sein, dass die Fähigkeit des Völkerrechts, staatliche Internetpolitik direkt zu determinieren, begrenzt ist. Völkerrechtliche Normen in die Welt zu setzen, die wirkungslos bleiben, schadet der Normativität des Völkerrechts als Rechtsordnung. In der gegenwärtigen internetpolitischen Debatte in den USA spielt geltendes Völkerrecht jedenfalls kaum eine Rolle; rechtspolitische Abhilfe etwa in Sachen NSA-Surveillance ist bestenfalls von Kongress-Lobbyisten von Google & Co. zu erwarten, die globale Marktanteile in Gefahr sehen.

Die sozialwissenschaftliche Compliance-Forschung liefert allgemeinere Hinweise auf Umfang und Bedingungen völkerrechtlicher Normbefolgung durch Staaten. Eine wirkungsorientierte Rechtsdogmatik und Rechtspolitik muss diese empirischen Einsichten berücksichtigen – und dabei auch die zahlreichen indirekten Wirkungsweisen des Völkerrechts zur Kenntnis nehmen. Gerade menschenrechtliche Normen wirken über Reputations- und Sozialisierungseffekte, Wissens- und Identitätsproduktion. So mag datenschutzrechtliches „Shaming“ von Google, Facebook & Co. staatliche Internetpolitik nicht direkt determinieren, es kann aber längerfristig Präferenzstrukturen und Selbstbilder verändern – und so dem Internetvölkerrecht indirekt zur Wirkung verhelfen.

4. Das Internetvölkerrecht muss Legitimitätsbedenken aus dem Globalen Süden selbstkritisch begegnen

Eine universelle völkerrechtliche Ordnung des Internets ist nicht per se wünschenswert. Werte wie „Transparenz, Inklusivität und Accountability, Entwicklungsorientierung und Menschenzentriertheit“ sind dem Internetvölkerrecht weder a priori eingeschrieben, noch ist seine Zukunft automatisch darauf gerichtet. Das Völkerrecht hat seine dunklen Seiten, die Exklusion ermöglichen, Verantwortungslosigkeit legitimieren, Ungleichheit verstärken und Emanzipation erschweren. Wo internationales Recht das Internet schützt, profitiert nur eine Minderheit der Weltbevölkerung mit Internetzugang. Wo es geistiges Eigentum bevorzugt, vertieft es den technologischen „Digital Divide“. Wo es die englische Sprache privilegiert, schließt es die Mehrheit der Weltbevölkerung aus. Wo es digitale Informationen und „Big data“ verbreitet, verfestigt es die epistemische Dominanz bestimmter Wahrheitsansprüche und verdrängt andere Wissensformen.

Der immanente Universalitäts- und Gerechtigkeitsanspruch des Völkerrechts verdeckt diese Probleme – und begegnet daher berechtigten Zweifeln in der Völkerrechtswissenschaft des Globalen Südens. Third World Approaches to International Law und postkoloniale Ansätze verwerfen  das Völkerrecht oft als Projekt universeller „guter“ Ordnung, und verstehen es bestenfalls als Projektionsfläche für politische Gerechtigkeitskämpfe und Emanzipationsbewegungen. Dies Sichtweise informiert selbstbewusste Völkerrechtspolitik im Globalen Süden, und nicht zufällig finden Entwicklungs- und Internet-Gipfel heutzutage in Rio und São Paulo statt und nicht in Washington oder Genf. Dieser Kritik muss sich gerade das Internetvölkerrecht mit seinem globalen Anspruch und Gegenstand stellen. Denn in einer multipolaren Welt kann nur eine selbstkritische Völkerrechtswissenschaft Legitimitätsbedenken glaubwürdig – und selbstbewusst – begegnen.

5. Kommunikative Völkerrechtswissenschaften als Zukunftsaufgabe

Selbstkritik ist also wichtige Zukunftsaufgabe der Völkerrechtswissenschaft. Dazu gehört die Einsicht, dass Völkerrecht nicht nur juristischer Elitendiskurs sein darf.  Vielmehr bedarf es vielfältiger Völkerrechtswissenschaften, die dogmatisch und transdisziplinär arbeiten, Rechtsnormen auslegen und sie in ihrem politischen und ökonomischen Kontext verstehen, ihre Entstehungs- und Wirkungsbedingungen empirisch untersuchen und alternative Völkerrechtsgeschichten schreiben. Und das Völkerrecht muss kommunizieren – mit anderen Disziplinen, mit der Öffentlichkeit, mit der Politik, auch jenseits des euro-atlantischen Raumes, in verständlicher Sprache und in einem globalen Kommunikationsmedium. Der Völkerrechtsblog – und da stimme ich Matthias wieder ganz zu – eignet sich besonders, diese Zukunftsaufgaben anzugehen.

 

Ein Rejoinder auf diesen Text findet sich hier.

 

Michael Riegner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Justus-Liebig-Universität Gießen und derzeit Hauser Global LLM Scholar an der NYU Law School. 

Cite as:  Michael Riegner, “Grotius has a long way to go”, Völkerrechtsblog, 5 May 2014, doi: 10.17176/20170104-155734.

Author
Michael Riegner

Michael Riegner is assistant professor of international law and global administrative law at Erfurt University in Germany.

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