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Die neue WSK-Rechtsprechung des IAGMR

Impulse für Arbeitnehmerrechte in Lateinamerika

02.11.2018

In einem früheren Post auf diesem Blog hat Lucas Sánchez eine bedeutende Rechtsprechungsänderung des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte (IAGMR) im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (WSK-Rechte) thematisiert. Zentral hierfür ist die Entscheidung Lagos del Campo vs. Peru vom August 2017, in welcher der Gerichtshof erstmals die direkte Justiziabilität der WSK-Rechte unter Artikel 26 der Amerikanischen Konvention für Menschenrechte (AMRK) bestätigt. In seiner Reaktion darauf beleuchtete Pedro Villarreal die Auswirkungen dieser Rechtsprechungsänderung für das Recht auf Gesundheit.

Der vorliegende Beitrag ergänzt die genannten Texte um eine Betrachtung der Auswirkungen des neuen Ansatzes auf die Arbeitnehmerrechte. Der IAGMR hat sich in verschiedenen Fällen mit Arbeitnehmerrechtsfragen befasst, wie etwa der Freiheit von Zwangsarbeit und Sklaverei sowie der Gewerkschaftsfreiheit. Mit der Lagos del Campo-Entscheidung fügt er seiner Rechtsprechung in diesem Bereich eine wesentliche Komponente hinzu (für eine Zusammenfassung des Falles siehe hier). Auf der Grundlage seiner innovativen Lesart von Artikel 26 AMRK entwickelt der Gerichtshof ein Recht auf Beschäftigungsstabilität („estabilidad laboral“) und eröffnet neue Spielräume für die Behandlung von Arbeitnehmerrechten.

Ein neues Recht auf Beschäftigungsstabilität

Das Recht auf Beschäftigungsstabilität stützt keinen Anspruch für immer in einer Arbeitsstelle zu verbleiben. Stattdessen konturiert der IAGMR vier konkrete Staatenpflichten (Rn. 149): So müssen Staaten erstens geeignete Maßnahmen ergreifen, um das Recht auf Beschäftigungsstabilität zu regeln und seine Durchsetzung zu ermöglichen. Zweitens sind sie verpflichtet, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor ungerechtfertigten Entlassungen zu schützen. Drittens müssen die Vertragsstaaten bestehenden ungerechtfertigten Entlassungen abhelfen, sei es durch die Anordnung der Wiedereinstellung der betroffenen Person oder aber durch Schadensersatz oder andere vom nationalen Recht vorgesehene Mittel. Zudem müssen, viertens, Beschwerdemechanismen eingeführt werden, die einen effektiven Rechtsschutz ermöglichen. Das Recht auf Beschäftigungsstabilität läuft somit im Wesentlichen auf ein Recht auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung hinaus.

Durch diese Auslegung macht der Gerichtshof die AMRK zu einem wichtigen völkerrechtlichen Instrument für Kündigungsschutzfragen in der Region. Dies ist auch deshalb von besonderer Bedeutung, weil das einschlägige ILO-Instrument, ILO-Übereinkommen Nr. 158 über die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber, bislang von lediglich zwei Ländern in der Region ratifiziert worden ist. Zwar enthält Artikel 7(d) des weithin ratifiziertenZusatzprotokolls von San Salvador über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ein Recht auf Beschäftigungsstabilität. Jedoch ist diese Bestimmung – wie nahezu alle Artikel des Protokolls – nicht von der Jurisdiktion des IAGMR umfasst (vgl. dessen Artikel 19 Abs. 6).

Vor diesem Hintergrund liegt die maßgebliche Neuerung für den Arbeitnehmerrechtsschutz darin, dass die nationale Kündigungsschutzgesetzgebung der AMRK-Vertragsstaaten sowie deren Anwendung nunmehr der verbindlichen Überprüfung durch ein internationales Gericht unterzogen werden kann. Eine zusätzliche Dynamik in dem Bereich könnte sich durch die vom IAGMR entwickelte Pflicht zur Konventionskontrolle ergeben. Diese sieht vor, dass die innerstaatlichen Gerichte und andere staatliche Organe interne Gesetze und andere Rechtsakte auf ihre Vereinbarkeit mit der AMRK in der Auslegung durch den IAGMR überprüfen. Bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten hätten die Gerichte der Vertragsparteien somit die kündigungsschutzrechtlichen Regelungen auf ihre Vereinbarkeit mit den sich aus dem Recht auf Beschäftigungsstabilität ergebenden Anforderungen zu untersuchen.

Impulse für eine weitergehende Arbeitnehmerrechtsprechung

Das Innovationspotential der Lagos del Campo-Entscheidung bezüglich der Arbeitnehmerrechte geht allerdings über das Recht auf Beschäftigungsstabilität hinaus. So leitet der IAGMR dieses neue Recht maßgeblich aus dem Recht auf Arbeit her, das er von Artikel 26 AMRK als geschützt ansieht. Das Recht auf Arbeit umfasst jedoch neben dem Schutz vor ungerechtfertigten Kündigungen weitere Elemente, die vor dem Gerichtshof geltend gemacht werden könnten. Unter anderem sind Staaten nach der Spruchpraxis des UN-Ausschusses für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSK-Ausschuss) verpflichtet, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass Arbeitsmarktreformen nicht zu einer Präkarisierung der Beschäftigung führen (siehe hierzu jeweils Allgemeine Bemerkung Nr. 18 des WSK-Ausschusses).

Zudem eröffnet die in Lagos del Campo entfaltete neue Auslegung von Artikel 26 der AMRK ein Einfallstor für weitere arbeitnehmerbezogene WSK-Rechte. Zur Ermittlung des materiellen Gehalts dieser Bestimmung nimmt der Gerichtshof in Lagos del Campovs. Peruspeziell Bezug auf die Charta der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS-Charta), auf die Artikel 26 AMRK explizit verweist (Rn. 143). Besonderes Augenmerk legt der Gerichtshof ferner auf die Amerikanische Erklärung der Rechte und Pflichten der Menschen (Rn. 144). Diese definiert, nach seiner Rechtsprechung, die in der OAS-Charta genannten Rechte.Im Bereich der Arbeitnehmerrechte könnte dieser Ansatz insbesondere das Recht auf faire Arbeitsbedingungen betreffen, das ebenfalls in der OAS-Charta (Artikel 34 g, 45 b) und in der Interamerikanischen Erklärung (Artikel XIV) erwähnt wird. Die besagten Bestimmungen betonen vor allem das Recht auf einen angemessenen Lohn. Daneben spricht vieles dafür, dass auch andere Aspekte wie angemessene Arbeitszeiten, wöchentliche Ruhezeiten und bezahlter Urlaub hiervon umfasst sein können (siehe etwa Allgemeine Bemerkung Nr. 23 des WSK-Ausschusses). Ferner wird das Recht auf Streik in der OAS-Charta (Artikel 45 c) anders als in der AMRK ausdrücklich genannt.

Schließlich könnte sich im Zusammenhang mit diesen Rechten wie auch für das Recht auf Arbeit und das sich daraus ergebende Recht auf Beschäftigungsstabilität die Frage nach der Zulässigkeit des Rückbaus von nationalen Arbeitnehmerschutzregelungen stellen. So hat der IAGMR in der Entscheidung Cuscul Pivaral y otros vs. Guatemala vom August 2018 eine Verletzung des in Artikel 26 AMRK enthaltenen Progressivitätsprinzips im Zusammenhang mit dem Recht auf Gesundheit festgestellt. Auch unterliegen rückschrittliche Maßnahmen mit Blick auf WSK-Rechte nach der Spruchpraxis des WSK-Ausschusses erheblichen Rechtfertigungserfordernissen.

Der konkrete Mehrwert des neuen Ansatzes

Der IAGMR hat seit dem Urteil im August 2017 mehrfach seinen Kurs hinsichtlich der direkten Justiziabilität von WSK-Rechten (siehe hierhier und hier) fortgeführt und in einem weiteren Fall auch seine Rechtsprechung zum Recht auf Arbeit bzw. auf Beschäftigungsstabilitätbestätigt. Der in Lagos del Campoentwickelte Ansatz kann insofern wohl als gefestigte Rechtsprechung angesehen werden.Was dies konkret zur Stärkung der Arbeitnehmerrechte beitragen wird, bleibt freilich abzuwarten. Auf den der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall hatte der innovative Ansatz des Gerichts kaum praktische Auswirkungen. Der Sachverhalt, der im Kern die unterlassende Ahndung einer ungerechtfertigten Kündigung eines Arbeitnehmervertreters betraf, hätte zu seiner Bewältigung nicht der Heranziehung neuer Rechte bedurft. In der Tat stellte der Gerichtshof – neben dem Verstoß des Rechts auf Beschäftigungsstabilität – die Verletzung zahlreicher anderer Rechte, wie der Rechte auf Meinungsfreiheit, auf Vereinigungsfreiheit sowie auf ein faires Verfahren und Rechtsschutz, fest. Auch beschränkte sich der Gerichtshof in Bezug auf die angeordneten Reparationen, anders als in anderen Entscheidungen, auf eher konservative Maßnahmen, wie den Ersatz von materiellen und immateriellen Schäden sowie die Veröffentlichung der Entscheidung (Rn. 200, 215, 216, 222). Zwar sind die Gründe hierfür wohl vor allem in den Besonderheiten des Falles zu suchen, nicht zuletzt dem zeitlich weit zurückliegenden Sachverhalt. Jedoch verdeutlicht dies, dass die Anerkennung neuer Arbeitnehmerrechte nicht automatisch mit praktischen Auswirkungen für die Betroffenen einhergeht.

Ausschlaggebend für die konkrete Bedeutung der neuen Rechtsprechung für den Schutz von Arbeitnehmerrechten wird vor allem die Ausgestaltung der jeweiligen Rechte im Detail sein. So verzichtete der Gerichtshof etwa mit Blick auf das Recht auf Beschäftigungsstabilität darauf darzulegen, unter welchen Umständen er eine Kündigung als gerechtfertigt oder aber unzulässig ansieht. Auch wird abzuwarten sein, inwieweit der IAGMR seine neue Rechtsprechung zum Recht auf Arbeit auf Fragen der informellen Wirtschaft anwenden wird, die in Lateinamerika einen Großteil des Arbeitsmarktes ausmacht. Dessen ungeachtet stellt dieses Urteil einen erheblichen Impuls für den internationalen Schutz von Arbeitnehmerrechten in der Region dar, der auch zu einer stärkeren Nutzung des interamerikanischen Menschenrechtssystems durch Arbeitnehmer und Gewerkschaften beitragen könnte.

 

Franz Christian Ebert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg.

Charlotte Fabricius ist LLM – Studentin im Studiengang Public International Law an der Universität Amsterdam.

 

Cite as: Franz Christian Ebert und Charlotte Fabricius, “Die neue WSK-Rechtsprechung des IAGMR: Impulse für Arbeitnehmerrechte in Lateinamerika”, Völkerrechtsblog, 2. November 2018, doi:10.17176/20181106-100924-0.

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