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Völkerrecht und die Legislative

Wenn der nationale Gesetzgeber mit den Schultern zuckt

06.08.2014

In diesem Beitrag plädiere ich dafür, dass sich Völkerrechtler*innen mit Unterlassungen von nationalen Gesetzgebern befassen sollten. Zweck des kurzen Textes ist die Begründung für eine rechtsdogmatische, -theoretische und -soziologische Auseinandersetzung mit Situationen, in denen Völkerrecht gesetzgeberische Maßnahmen vorgibt, die angesprochenen Legislatoren in den Vertragsstaaten aber mit den Schultern zucken.

Warum sollten Unterlassungen der nationalen Legislativen Völkerrechtler*innen beschäftigen?

Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Zahl der völkerrechtlichen Normen unzweifelhaft zugenommen. Ebenso ist unbestritten, dass die Abwesenheit einer fehlenden zentralen völkerrechtlichen Rechtsdurchsetzungsinstanz bedeutet, dass die nationalen Rechtssysteme auch ein Vierteljahrhundert nach dem proklamierten Ende der Geschichte und der Hoffnung, dass ideologische Differenzen nach dem Kalten Krieg internationale Mechanismen weniger stark prägen würden, weiterhin den Löwenanteil der konkreten Durchsetzung des Völkerrechts übernehmen. Zu Recht haben sich Forscher*innen in den letzten zehn Jahren eingehend mit dem Zusammenspiel zwischen Völkerrecht und nationalen Gerichten befasst. Die Interaktion zwischen Völkerrecht und den nationalen Gesetzgebungsprozessen hat jedoch noch nicht die verdiente Aufmerksamkeit erhalten.

Gesetzgebungsaufträge im Völkerrecht

Gesetzgebung ist ein zentrales Mittel, um völkerrechtliche Zielsetzungen in konkrete Realitäten zu übersetzen. So sehen zahlreiche völkerrechtliche Verträge verpflichtend vor, dass die Vertragsstaaten gesetzgeberische Massnahmen zu treffen haben, um die Ziele eines Übereinkommens zu erreichen. Solche Bestimmungen sind weit verbreitet – sei es im Bereiche des internationalen Menschenrechtsschutzes, der transnationalen Verbrechungsbekämpfung, des Umweltvölkerrechts oder der Regulierung von wirtschaftlichen Aktivitäten. In vielen Fällen reagiert der nationale Gesetzgeber auf solche völkerrechtlichen Vorgaben auch tatsächlich mit Anpassungen im Landesrecht. Aber nicht immer.

Die Uno-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BehiK) ist nur eines von vielen Beispielen von Staatsverträgen mit teilweise präzise formulierten Gesetzgebungsaufträgen. Die BehiK ist für die Schweiz am 15. Mai 2014 in Kraft getreten (für Deutschland am 24.2.2009 und für Österreich am 26.9.2008). Vor der Ratifizierung hat die Eidgenossenschaft in einem Gutachten abklären lassen, inwiefern die schweizerische Rechtslage in einigen ausgewählten Teilbereichen bereits der Konvention entspricht. Das Gutachten kam zum Schluss, dass die BehiK in mehreren der ausgewählten Teilbereiche zusätzliche gesetzgeberische Massnahmen verlangt, bevor die Schweiz der Konvention vollständig gerecht werden kann (so z.B. in Bezug auf die Vorgabe zum Diskriminierungsschutz in privatwirtschaftlichen Arbeitsverhältnissen, Art. 27 lit. a der BehiK, welche ein Verbot der Diskriminierung in allen Bereichen des Berufslebens fordert und damit klar über das bestehende schweizerische Recht hinaus geht). Der Bundesrat schlägt in seiner Botschaft zur Ratifikation jedoch keinerlei gesetzgeberische Massnahmen vor. Auch bei den gesetzgeberischen Organen der verschiedenen Stufen zeichnet sich kein Impetus für gesetzgeberische Tätigkeit gestützt auf die BehiK ab – Mehrheiten wären auch alles andere als selbstverständlich.

Sollten wir überrascht sein?

Wahrscheinlich nicht. Die Idee, dass ein völkerrechtlicher Vertrag bloss verfassungsrechtliche Positionen konkretisieret und rechtlich keine, oder zumindest keine dringenden, Anpassungen verlangt, ist wahrscheinlich – wie es Bruno Simma bezeichnet haben soll – in erster Linie ein Verkaufsargument von Regierungen. Es ist auch nicht verwunderlich, dass wohl die wenigsten Parlamentsmitglieder die demnächst 156 Bände umfassenden International Law Reports in ihrer Hausbibliothek stehen haben. Wenn ein Mitglied eines kantonalen Milizparlamentes über eine Vorlage entscheidet, wird er oder sie kaum den Wortlaut sämtlicher einschlägiger Bestimmungen aus völkerrechtlichen Verträgen vor Augen haben. Gleichzeitig kann davon ausgegangen werden, dass für die einzelnen Staaten ein gewisser Konformitätsdruck besteht, neue völkerrechtliche Verträge zu ratifizieren, um nicht im Abseits zu stehen. Diese Mischung begünstigt die Akzeptanz von völkerrechtlichen Gesetzgebungsaufträgen bei gleichzeitig mässigem Umsetzungsenthusiasmus.

Mind the Gap: Gesetzgeberische Unterlassungen als Herausforderung

Was tun bei Konstellationen von verbindlichen Gesetzgebungsaufträge im Völkerrecht und wenig Chancen auf vollständige Umsetzung im Landesrecht? Völkerrechtler*innen mögen einwenden, dass die Situation grundsätzlich keine grossen Probleme aufwerfe, da die Staatenverantwortung in Fällen von gesetzgeberischen Unterlassungen klar geregelt sei. Völkerrechtlich entsteht die Staatenverantwortung schliesslich immer dann, wenn ein Staat es versäumt, eine verbindliche völkerrechtliche Norm einzuhalten (Art. 12 der ILC-Artikel zur Staatenverantwortung) und zwar ungeachtet davon, welches Staatsorgan einen Rechtsbruch verursacht – also auch wenn die Nichterfüllung einer Norm auf eine Unterlassung eines legislativen Organs zurückgeht. Man müsste also bloss prüfen, welche normative Qualität eine Verpflichtung zur Ergreifung von gesetzgeberischen Massnahmen hat und nach Ablauf welcher Zeitdauer man allenfalls von einer gesetzgeberischen Unterlassung sprechen kann. In der Praxis jedoch hat die Staatenverantwortung oft wenig spürbare Konsequenzen, insbesondere wenn der Vertragsstaat die Kompetenz eines Überwachungsorgans nicht anerkennt. Etwas salopp gesagt: Der Gesetzgeber kann in vielen Fällen mit den Schultern zucken ohne allzu viele Folgen befürchten zu müssen.

In Fällen, in denen das Fehlen von legislativen Massnahmen einer gesetzgeberischen Unterlassung gleichkommt, stellt sich die Frage, wie am besten damit umgegangen werden sollte. Gesetzgebung ist zwar nur ein Mittel der Steuerung, aber es ist unschwer zu erkennen, dass gesetzgeberische Unterlassungen die Effektivität des Völkerrechts schmälern und zu einem implementation gap führen. Gleichzeitig stehen Antwortmöglichkeiten in einem Spannungsfeld mit Prinzipien der Gewaltentrennung und der Gestaltungsfreiheit des demokratisch legitimierten Gesetzgebers: Je enger der Spielraum für den nationalen Gesetzgeber, den die völkerrechtliche Norm belässt, desto weniger Gesetzgebungsfreiheit bleibt für demokratisch gewählte Parlamente. In Anbetracht der konkreten Auswirkungen von solchen Konstellationen auf die Realität des Völkerrechts und der fundamentalen Rechtsfragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, erstaunt es, dass das Problem bis auf einen Bericht der Venedig-Kommission des Europarates bisher von Völkerrechtler*innen wenig Aufmerksamkeit erhalten hat.

Ob diese stiefmütterliche Behandlung der Thematik daher rührt, dass es sich um eine besonders komplexe und auch kontroverse Schnittstelle zwischen Völker- und Landesrecht handelt? Mit anderen Worten: Liegt es an der normativen Ausgestaltung der Problematik der legislativen Unterlassung? Oder liegt es daran, dass wir im Völkerrecht die Tendenz haben, uns derart auf die errungenen Ergebnisse von multilateralen Verhandlungen zu fokussieren, dass wir ausblenden, was danach tatsächlich mit ihnen geschieht? Und wir dann feststellen müssen: “The paragraph did not change the world.” Wie Martti Koskenniemi es vor Kurzem mit seinem rechtssoziologischen Befund auf diesem Blog ausgedrückt hat: Völkerrecht kann nicht alles und “we should have a much more reflective view on the actual operation of the law”.

 

Eine Replik auf den Beitrag findet sich hier.

 

Evelyne Schmid forscht an der Juristischen Fakultät der Universität Basel und ist Lehrbeauftragte an der Universität Luzern.

 

Cite as: Evelyne Schmid, “Völkerrecht und die Legislative: Wenn der nationale Gesetzgeber mit den Schultern zuckt ”, Völkerrechtsblog, 6. August 2014, doi: 10.17176/20170105-175805.

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Evelyne Schmid
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3 Comments
  1. […] und tatsächlich Praktiziertes fallen auseinander. Evelyne Schmid hatte jüngst auf diesem Blog das legislative Unterlassen bei der Umsetzung von Völkerrecht beklagt. Doch selbst nach einem Umsetzungsakt durch die Legislative bleiben mitunter große Teile der […]

  2. Hallo Evelyne,

    mit Deinem Beitrag greifst Du ein interessantes Themenfeld auf. Der Beitrag behandelt die mangelhafte Umsetzungspraxis völkerrechtlicher Verpflichtungen auf nationaler Ebene. Dieses Problem, welches im Rahmen der EU mit dem Francovich-Urteil (EuGH, C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, 5357ff.) in Verbindung zu bringen sein könnte, wird begründet, indem Du nunmehr die Schweizer Sicht der Umsetzung der BehiK beleuchtest. Leider geht Dein Beitrag nicht über diese Feststellung hinaus und gibt auch sonst keine Auskünfte darüber, WIE “sich Völkerrechtler_innen mit Unterlassungen von nationalen Gesetzgebern befassen sollten”. Dies ist aber doch gerade der wichtige Part, da die Existenz des Problems der Umsetzungsschwäche völkerrechtlicher Normen auf nationaler Ebene doch bekannt und nicht überraschend ist wie Du selbst geschrieben hast. Daher kann ich auch Deinen Hinweis auf einen Bericht der Venedig Kommission nicht nachvollziehen.

    Vielleicht kannst Du hierauf ja noch einmal Bezug nehmen.
    Mit den besten Grüßen aus Trier
    Oliver

  3. Lieber Oliver,
    Besten Dank für Deinen Kommentar. Tatsächlich sind das Franchovich-Urteil und die Nuancen aus der darauffolgenden Rechtsprechung des EUGH (v.a. in Brasserie du pêcheur) im Zusammenhang mit dem Umgang mit gesetzgeberischen Unterlassungen sehr relevant. Als Völkerrechtlerin finde ich es faszinierend, dass die “effet-utile-Logik” des Urteils (inkl. aller haftungsrechtlichen Konsequenzen) im EU-Recht inzwischen in jedem Lehrbuch als mehr oder weniger selbstverständlich hingenommen wird, anderorts aber als nahezu undenkbar erscheint. Innerstaatlich stellen sich mitunter ähnliche Fragen, wenn ein gesetzgeberisches Organ einer tieferen Stufe einen Gesetzgebungsauftrag nicht umsetzt. Im Bereich von Schäden, die durch die Nichterfüllung von Gesetzgebungsaufträgen bei einzelnen Bürgerinnen und Bürgern entstehen, zum Beispiel, haben die schweizerischen Gerichte die Konsequenz der “Franchovich-Logik” weder gegenüber dem Bund noch gegenüber den Kantonen gezogen. Man könnte die vom EUGH angeführte Begründung theoretisch auch in einem Bundesstaat anwenden. Dass dies nicht geschieht, finde ich spannend und deutet m.E. darauf hin, dass es erstens rechtsdogmatisch und -soziologischen Erklärungsbedarf gibt und dass zweitens eine Auseinandersetzung mit dem Umgang mit gesetzgeberischen Unterlassungen (hoffentlich) Hinweise liefern kann, wie Völkerrecht und die nationalen Gesetzgeber zusammen spielen (oder eben nicht).
    Du hast recht: Der Blog-Post soll erstmal als eine Art “agenda-setting” verstanden werden und kann tatsächlich noch nicht darüber Auskunft geben, welches die konzeptuellen Gemeinsamkeiten von Unterlassungen nationaler Gesetzgeber sind. Zuerst einmal arbeite ich an einer soliden Definition von legislativen Unterlassungen – denn oftmals ist es alles andere als offensichtlich, ob es sich um eine Unterlassung handelt oder vielmehr um eine andere politische Gewichtung in der Auslegung einer Norm. Deshalb bin ich nun daran, die Tatbestandsmerkmale von legislativen Unterlassungen so herauszuschälen, dass das Problem der gesetzgeberischen Unterlassung von anderen Umsetzungsschwächen möglichst sauber abgegrenzt werden kann. Diesbezüglich ist es sehr hilfreich, zu hören, was andere über das Thema denken und ich hoffe, dass Dein Kommentar noch weitere Leser_innen motiviert, einen Kommentar zu posten! 🙂
    Noch zum Link zum Bericht der Venedig-Kommission: Wenn Du auf “Edition spéciale – Omission législative 2008” klickst (drittletzter Eintrag von unten – zugegeben, nicht ganz offensichtlich!), kommst Du zum eigentlichen Bericht. Der direkte Link zum PDF scheint nicht überall zu funktionieren und so hat die Blog-Redaktion einen allgemeineren Link empfohlen. 2008 traf sich die Konferenz der Europäischen Verfassungsgerichte in Vilnius und widmete ihren Kongress dem Thema.
    Mit besten Grüssen aus Basel,
    Evelyne

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