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Völkerrecht jenseits des Normdualismus

12.06.2014

Replik zum Beitrag von Benedict Vischer

Was an der Zukunft existentiell sein soll, erschließt sich dem durch und durch agnostischen Gemüt alles andere als unmittelbar. Im Gegenteil wird es sich vielfach einem Präsentismus verschreiben, in dem Vergangenheit wie Zukunft einen zweifelhaften ontologischen Status teilen, stattdessen die Gegenwart alles ist, was temporal, von der Zeit existiert. Warum auch sollte man auf Künftiges hoffen, wenn man jetzt glauben oder lieben kann? Und wird die Religion selbst nicht zunehmend zu einer Liebesreligion, wenn die Verhältnisse sich bessern? Verliert sie nicht ihre Tröstungsfunktion, ihre Befriedungsaufgabe an der Sehnsuchtsfront?

Die Bedeutung der Geschichtsphilosophie

So wird es der modern-aufgeklärte Zeitgenosse nicht selten vermuten – und dabei verkennen, wie sehr er dann selbst einer Geschichtsphilosophie aufsitzt. Daher ist es stets erfrischend, wenn an die fortdauernde Bedeutung der Geschichtsphilosophie auch für das Recht und dessen Entwicklung erinnert wird. Das Recht ist weder bloß geronnene Vergangenheit noch Management der Gegenwart, sondern immer auch Vorschau auf eine größere, gerechtere Zukunft. Wie theologisch ein solches Hoffen ist, mag dahinstehen. Bei Benedict Vischer ist es das jedenfalls erkennbar.

Musste die Vergangenheit als Vergangenheit im Historismus erfunden werden, die Gegenwart in ihrem Selbststand im 17. Jahrhundert, wie Achim Landwehr soeben in „Die Geburt der Gegenwart“ gezeigt hat, so versteht sich auch die Zukunft nicht von selbst. Im Gegenteil: Sie ist wohl besonders „immateriell“ und deutungsoffen, in ihrer Möglichkeitsmodalität aber auch der Normativität verhaftet – und somit dem Recht als einem bevorzugten formalisierten Transporteur des Normativen. Benedict Vischer benennt dieses Moment sehr klar, wenn er vom Recht sinngemäß sagt, es halte Handlungsoptionen offen, weise dem Menschen in seiner Kontingenzermöglichung gerade dessen personale Freiheit auf. Das ist sehr protestantisch gedacht, warum nicht?

Recht und Völkerrecht

Was für das Recht im Allgemeinen gilt, muss allerdings nicht für das Völkerrecht im Besonderen, insbesondere nicht in besonderem Maße zutreffen. Die These, dass gerade das Völkerrecht fortschrittstheoretisch aufgeladen werde, mag man als Beschreibung einer etwas hilflos wirkenden Tendenz noch hinnehmen. Denn in der Tat dominiert hier in Europa eine wirklich große Erzählung: von der Koordination über die Kooperation zum globalen Konstitutionalismus. Doch wie steht es um den Verweis auf Kant, den großen Verfechter des Primats des Normativen?

Werkexegese zu betreiben ist hier nicht der Platz. Es mag der Verweis auf Christoph Horns wichtige Analyse der „nichtidealen Normativität“ in Kants politischer/Rechtsphilosophie genügen. So wächst der Zweifel, wie stark man die systematische Bedeutung der Geschichtsphilosophie für die Normativität des Rechts tatsächlich veranschlagen darf. Ist sie vielleicht mehr Krücke als Gestell? Eher ein etwas verlegener Tribut an das Revolutionszeitalter?

Politische Theologie mit ihrer These von der Säkularisierung geistlicher Begriffe hat eine größere Nähe zu Hegel als zu Kant, und so auch alles Fortschrittsdenken – ungeachtet Hegels eigenen Überzeugungen von einer Vollendung der Geschichte im preußischen Staat. Denn Hegelsche Begriffe sind es, die Möglichkeiten offenhalten. Sie passen mit ihrer immanenten Transzendenz aber gerade nicht zu Vischers Plädoyer für mehr genuine, das heißt externe Transzendenz. Der Kantianismus ist dann zwar die nächstliegende Theorieoption, wird aber weder der Geschichtsphilosophie noch der Rechtsform gerecht – erstere hängt in der Luft, die zweite wird moralisch überdeterminiert.

Es ist sicher zutreffend, dass die Fortschrittsidee vor allem im Völkerrecht noch präsent sein soll – als einem Reservat modernistischer Säkularisate. Dies verrät indes mehr über die Fortschrittsidee als über das Völkerrecht: Jene sucht sich an das normative Material zu heften, das die Transzendierung von Grenzen verspricht – und warum sollten das nicht prototypisch geographische sein? Doch ist die Beziehung der politischen zur „juristischen Theologie“ durchaus komplex. Unbestritten ist es bedeutsam, neben dem Wertungs- und Beschreibungsmoment des Rechts auch dessen Hoffnungsmoment wieder zu entbergen – die Zukunft als verdrängte zu begreifen. Was hieße das aber für das Völkerrecht?

Dualismus der Zeit – Dualismus der Norm

Vischer insistiert, dass die Zukünfte der Vergangenheit nicht ignoriert werden dürften, dass wir uns gegenüber unerfüllten Hoffnungen nicht blind stellen dürften. Ist die Forderung nach einer säkularen Allversöhnung, dem Vorschein des Reiches Gottes auf Erden, tatsächlich einfach ein Wiedergänger? Die reformistische Verflüssigung dieser Versöhnung ist zugleich Freiheitsbedingung wie allzu pessimistisch: Reden wir nicht von einem ganz anderen Standpunkt, wenn wir heute Konstitutionalisierung fordern, als Vordenker der 1920er Jahre? Ist hier nicht eine Verwechslung zu verzeichnen? Das kann Vischer nicht zugeben, weil er historische und ewige Zeit gegeneinander stößt. Fortschritt ist dann nur – orthodox – beim Wechsel der Zeiten zu greifen, eben wenn es „existentiell“ wird, was man ganz wörtlich verstehen darf. Das ist Kants Zwei-Welten-Vorstellung, das ist christliche Orthodoxie. Holt man – monistisch – die zweite in die erste Welt, wie Hegel, wie christliche Häretiker_innen, Blochs Religion des „Exodus“ statt des „Reichs“ („Atheismus im Christentum“!), überhaupt alle Befreiungstheologie im weiteren Sinne, dann erfährt das Recht gegenüber der Moral eine ungeheure Aufwertung. Es kann als konkret Gegebenes Mögliches erst aufzeigen und dann erschließen – gerade durch die Chance zur Abweichung (ein Hauptstrang des demnächst erscheinenden Buches „Die Möglichkeit der Normen“ von Christoph Möllers). Aber auch durch seine je vorhandene Begrifflichkeit, die es „auszuschöpfen“ gilt.

Nun hat das Völkerrecht sehr verschiedene Hoffnungsmomente gekannt: den (National-) Staat, dessen Macht und Selbstbehauptung, von Kelsen so meisterlich als Staatsvergottung entlarvt („Phase Schmitt“). Eine internationale Friedensordnung der Selbstbeschränkung im Eigeninteresse („Phase UNO“). Und die transnationale Menschenrechtsordnung der „Phase Weltinnenpolitik“. Jedes dieser Momente tritt historisch phasenweise gehäuft auf. Möglicherweise auch zyklisch als Nationalismus, Internationalismus und Kosmopolitismus. Sicher sind Einmaligkeiten selten – aber Tendenzen und Verläufe machen erst Geschichte.

Auch für das Völkerrecht gilt zudem: was jenseits von „Sollen impliziert Können“ liegt, alles Theologische, ist dem Recht eher fremd. Und das Völkerrecht widersetzt sich wie andere Rechte der Belehrung durch die Theologie, die ihr Verhältnis zum Diesseits stets in der Schwebe hält. Wie viel Reich Gottes auf Erden – wie starke Normativität rechtlicher Begriffe und Forderungen – wie radikale Politik: Diese Fragen verbindet mehr, als sie trennt. Benedict Vischers Ruf nach einer aufgeklärteren juristischen Theologie des Völkerrechts kann daher leicht der Ruf nach einer anderen solchen Theologie beigefügt werden, deren Existentialität etwas weniger extern-idealistisch ausfällt. Das würde bedeuten, von den Begriffen des geltenden Rechts aus auf deren unausgeschöpfte Gehalte dialektisch, auf der Suche nach Widersprüchen zu reflektieren.

 

Tim Wihl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

 

Cite as: Tim Wihl, “Völkerrecht jenseits des Normdualismus”, Völkerrechtsblog, 12 June 2014, doi: 10.17176/20170104-165451.

 

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Tim Wihl
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