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Verstoß von Deutschland gegen EMRK wegen mangelnder Untersuchung von Polizeigewalt

Die Entscheidung des EGMR vom 9. November 2017 in der Sache Hentschel and Stark v. Germany, 47274/15

01.12.2017

Der EGMR hat in einem für Deutschland sehr wichtigen Verfahren eine Verletzung von Art. 3 der Konvention festgestellt. Das ist bisher noch nicht häufig geschehen. Art. 3 schützt gegen unmenschliche Behandlung. Der EGMR hat in dem Urteil festgestellt, dass keine ausreichende Untersuchung eines nach den Umständen nicht offenbar unbegründeten Vorwurfs einer Anwendung von unverhältnismäßiger Polizeigewalt erfolgt war. Der Fall betraf den Polizeieinsatz vom 9. Dezember 2007 im Zusammenhang mit einem Fußballspiel in München. Die Polizei war stark vertreten, weil Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Fan-Gruppen befürchtet wurden. Nach dem Spiel bildete die Polizei Blockaden, um ein Aufeinandertreffen der Fan-Gruppen zu verhindern.

Nach den Angaben der Beschwerdeführer wurde einer von ihnen mit einem Polizeistock geschlagen, der andere wurde mit Pfefferspray verletzt. Die Richtigkeit dieser Aussagen konnte auch vor dem EGMR nicht festgestellt werden. Nach Presseberichten kam es zu einer Untersuchung der Vorfälle. Der zuständige Staatsanwalt entschied am 10. September 2008 die Einstellung der Untersuchung, wobei er feststellte, dass einige Polizisten Schlagstöcke gegen Zuschauer, einschließlich von Frauen und Kindern, in einer unverhältnismäßigen Weise und ohne Anordnung benutzt hätten. Er stellte weiter fest, dass eine Zuordnung zu besonderen Polizeibeamten nicht möglich sei. Auf Beschwerde wurde die Untersuchung wieder eröffnet und eine besondere Polizeieinheit für derartige Untersuchungen beauftragt. Im August 2009 wurde die Untersuchung erneut eingestellt. Gerichtsverfahren der Betroffenen einschließlich einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht blieben erfolglos.

Hiergegen legten die Beschwerdeführer Beschwerde zum EGMR ein, der eine Verletzung von Art. 3 durch Deutschland feststellte, und zwar eine Verletzung der prozeduralen Seite dieses Artikels. Der EGMR hat in ständiger Rechtsprechung (siehe hier und hier) die wichtige Konsequenz aus Art. 3 entwickelt, dass bei einer vertretbaren Verdachtssituation auf Polizeigewalt eine unabhängige Untersuchung erfolgen muss. Die Untersuchung war nach Auffassung des EGMR hier nicht ausreichend, was überzeugend begründet wird. Das sollte zu einer Änderung der deutschen Praxis in derartigen Fällen führen.

Die Unabhängigkeit der Untersuchung

In verschiedenen Fällen hat der EGMR herausgestellt, dass die Untersuchung von Polizeigewalt durch unabhängige Organe erfolgen muss und nicht durch die handelnde Polizeieinheit. Der EGMR untersucht in diesem Zusammenhang, ob die Untersuchungseinheit der Polizei von den handelnden Polizisten ausreichend unabhängig war. Er bejaht das, obwohl es sich um eine Untersuchungseinheit handelte, die unter dem Münchener Polizeipräsidenten tätig war. Der untersuchende Polizeibeamte war aber nicht ein unmittelbarer Kollege der Beamten, die den Einsatz durchgeführt hatten. Der EGMR betont, dass er es für wünschenswert hält, dass derartige Untersuchungen von einer unabhängigen und von der normalen Polizei getrennten Einheit erfolgen, aber findet keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass keine ausreichende Unabhängigkeit vorhanden war. Das ist für das Verfahren in Deutschland wichtig, sollte aber zur Überprüfung der Unabhängigkeit der entsprechenden Untersuchungseinheiten in den Bundesländern führen.

Die mangelnde Effektivität der Untersuchung

Der EGMR erörtert eingehend, wie die Untersuchung erfolgte. Dabei spielte eine besondere Rolle, dass die Polizeibeamten nicht identifizierbar waren. Sie hatten keine Namen oder Nummern, die die Möglichkeit der Identifizierung gegeben hätten. Der Gerichtshof verweist hier auf seine Rechtsprechung, wonach eine Identifizierung etwa durch Nummern möglich sein sollte. Aber allein diese Tatsache sei nicht ausreichend, um die Untersuchung als ineffektiv zu bezeichnen. Es gab Videomaterial, das den Einsatz zeigte. Die Untersuchungseinheit der Polizei hatte aber nur Auszüge dieses Videomaterials verfügbar, weil andere Teile bereits vernichtet waren. Der EGMR kam zu dem Schluss, dass nur eine sehr intensive Untersuchung, die die Identität aller verantwortlichen Personen und die Art der Gewaltanwendung überprüft hätte, ausreichend gewesen wäre. Eine derartige Untersuchung konnte der EGMR aber nicht feststellen, was zu seiner Entscheidung führte, dass Art. 3 in seiner prozessualen Bedeutung verletzt worden ist. Der Gerichtshof untersucht auch, ob die Beschwerdeführer eine Möglichkeit hatten, die nicht ausreichende Untersuchung durch ein Verfahren zu klären. Hier sieht er die Verfassungsbeschwerde, bei der das Bundesverfassungsgericht eine Analyse durchgeführt hat, als im Prinzip ausreichend an. Er stellt aber die Verletzung von Art. 3 fest, weil die Untersuchung insgesamt nicht als effektiv angesehen werden konnte. Das Urteil sollte zu einer Überprüfung der Praxis in derartigen Fällen führen.

Die Auslegung des Begriffs “arguable claim“

Der EGMR legt dar, dass als Voraussetzung für die prozessuale Komponente des Art. 3 ein sogenannter “arguable claim“, eine vertretbare Anspruchslage, gegeben sein muss. Bei einem Verdacht auf eine unmenschliche Behandlung liegt dieses vor. Der Begriff „arguable claim“ spielt auch bei Art. 13 der Konvention eine Rolle, der eine Beschwerdemöglichkeit in allen Fällen einer behaupteten Konventionsverletzung vorsieht. Der EGMR hat hier teilweise den Begriff „arguable claim“ so interpretiert, als ob eine Verletzung bereits praktisch feststehen müsse. Das kann nicht dem Sinn des Art. 13 entsprechen. Hier dürfte die vorhandene Entscheidung hoffentlich auch eine Auswirkung auf die Interpretation dieses Begriffs im Rahmen von Art. 13 bewirken. Der Sinn von Art. 13 ist es, demjenigen, der mit vertretbaren Gründen eine Verletzung behauptet, eine Klärung vor unabhängigen Instanzen, möglichst vor Gerichten, zu ermöglichen (Vgl. Frowein bei Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 13).

 

Prof. Dr. Dres. h.c. Jochen A. Frowein ist ehemaliger Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und ehemaliges Mitglied und Vizepräsident der Europäischen Kommission für Menschenrechte.

 

Cite as: Jochen A. Frowein, “Verstoß von Deutschland gegen EMRK wegen mangelnder Untersuchung von Polizeigewalt. Die Entscheidung EGMR vom 9. November 2017 in der Sache Hentschel and Stark v. Germany, 47274/15”, Völkerrechtsblog, 1 December 2017 Year, doi:10.17176/20171204-122435 .

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Jochen A. Frowein
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