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Preemptive self-defense? Not yet!

12.06.2017

Nordkorea hat in diesem Jahr neun Raketentests durchgeführt, zuletzt drei innerhalb von nur drei Wochen, begleitet von den üblichen Drohungen Richtung Südkorea und den USA. Die letzte Rakete ist am 29. Mai nach rund 450 km in das japanische Meer gestürzt. Auch Japan fühlt sich bedroht und kündigte „konkrete Schritte“ an. Außerdem befinden sich mittlerweile drei Flugzeugträgergruppen der US Navy im Westpazifik. Amerikanische B1 Bomber unternehmen Übungsflüge über Südkorea, und die USA haben das modernste und derzeit effektivste Raketenabwehrsystem, Terminal High Altitude Area Defense (THAAD), in Südkorea stationiert. Bereits am 30. Mai haben die USA von ihrem Festland aus den Abschuss einer Interkontinentalrakete erfolgreich simuliert. Die USA schließen militärische Gewalt als Gegenmaßnahme nicht aus. Bereits mit den Luftschlägen gegen eine syrische Luftwaffenbasis hat die Trump-Administration im April 2017 gezeigt, dass sie gewillt ist, militärische Gewalt völkerrechtswidrig anzuwenden. Ob der Einsatz militärischer Gewalt gegenüber Nordkorea derzeit völkerrechtsmäßig wäre, ist ebenso fraglich.

Rechtfertigungsmöglichkeiten

Das Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 UN-Charta und ein Sicherheitsratsbeschluss gemäß Art. 39, 42 UN-Charta sind bekanntermaßen die einzigen praktischen Erlaubnistatbestände für die Anwendung militärischer Gewalt. Jedoch sind hier drei weitere Möglichkeiten denkbar, die die Anwendung militärischer Gewalt gegen Nordkorea erlauben könnten.

Aus der japanischen Völkerrechtslehre wurde bereits im Jahr 2005 angeführt, dass das Gewaltverbot nicht für das offene Meer gelte. Insofern sei Japan berechtigt, nordkoreanische Raketen, die in Richtung Japan fliegen, bereits über dem offenen Meer abzuschießen. Diese Interpretation ist angesichts der Bedrohung, der Japan ausgesetzt ist, verständlich. Allerdings wird das Gewaltverbot aus Art. 2 Abs. 4 UN-Charta nahezu einhellig als ein absolutes Gewaltverbot gelesen. Eine Relativierung hinsichtlich des offenen Meeres ist daher nicht überzeugend.

Des Weiteren könnte der seit dem Ende des Korea-Krieges (1950-53) nie mit einem Friedensvertrag beendete Kriegszustand zwischen Südkorea und Nordkorea militärische Gewalt zulassen. Ähnlich hatte seinerzeit Yoram Dinstein die israelischen Bombardierung des irakischen Osirak Atomreaktors im Jahr 1981 rechtfertigen wollen. Damals wie heute ist diese Betrachtungsweise jedoch zu formalistisch.

Denkbar ist auch ein Vorgehen durch die Generalversammlung nach dem Muster der Resolution Uniting for Peace (377). Angesichts der Intervention Nordkoreas in Südkorea im November 1950 und der Blockade des Sicherheitsrates durch die Sowjetunion betrauten die USA die Generalversammlung mit der Sache. Nach zähen Verhandlungen hat die Generalversammlung in der Resolution 377 militärische Zwangsmaßnahmen, mit dem Hinweis darauf, dass der Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit seiner Hauptaufgabe für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nicht nachkomme, gemäß Art. 12 Abs. 1 UN-Charta empfohlen. Seit 1950 kam es zu 10 Notstandsondertagungen nach dem Muster der Resolution 377. Bisher hat die Generalversammlung in keiner der 10 Tagungen militärische Zwangsmaßnahmen empfohlen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass bei einem Vorgehen der Generalversammlung nach der Resolution 377, militärische Zwangsmaßnahmen nur bei einem Bruch des Friedens oder einer Aggression empfohlen werden dürfen, also nicht bei einer bloßen Bedrohung des Friedens. Mangels einer Aggression oder eines Bruchs des Friedens kommt ein Vorgehen im Sinne der Resolution 377 als Erlaubnis für die Anwendung militärischer Gewalt derzeit nicht in Betracht. Zudem hat der Sicherheitsrat am 2. Juni einstimmig Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta angeordnet, wenn auch keine, die die Anwendung militärische Gewalt beinhalten. Insofern kann derzeit noch nicht davon gesprochen werden, dass der Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit seine Aufgabe zur Wahrung des Weltfriedens nicht wahrnimmt. Damit fehlt es zudem an der zentralen Voraussetzung für ein Verfahren nach der Resolution Uniting for Peace (377).

Unilaterale militärische Maßnahmen könnten somit nur im Rahmen einer vorwegnehmenden Selbstverteidigung im Sinne der preemptive self-defense völkerrechtlich erlaubt sein.

Das Konzept der Preemptive Self-Defense

Das Konzept der preemptive self-defense wurde erstmals im Jahr 2002 im Rahmen der National Security Strategy der Bush-Administration formuliert. Dieses fordert eine Neuinterpretation des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts angesichts neuartiger Herausforderungen durch internationale Terrororganisationen und sogenannten Schurkenstaaten in Verbindung mit Massenvernichtungswaffen. Als Schurkenstaaten wurden in der National Security Strategy im Übrigen seinerzeit beispielhaft Nordkorea und Irak identifiziert. Im Zuge des sich anbahnenden Irakkrieges im Jahr 2003 wurde das Konzept der preemptive self-defense fälschlicherweise als Rechtfertigungsversuch desselben diskutiert und nahezu einhellig als mit dem Völkerrecht unvereinbar verurteilt.

Interpretiert man das nur vage formulierte Konzept der preemptive self-defense eher restriktiv, kann man dieses wie folgt definieren:

Preemptive self-defense ist verhältnismäßige Selbstverteidigung gegen eine massive konkrete Bedrohung durch unberechenbare Staaten mit permanenten Bedrohungsaktivitäten oder Terrororganisationen mit Massenvernichtungswaffen, auch wenn noch Unsicherheit hinsichtlich des Ortes und des Angriffs bleiben, es aber davon auszugehen ist, dass ein Angriff stattfinden wird. Dabei ist die preemptive self-defense stets ultima ratio und als Ausnahmeoption immer einer Einzelfallprüfung und Erforderlichkeitsprüfung zu unterziehen.

Die herrschende Meinung verlangt demgegenüber immer noch den zeitlich unmittelbar bevorstehenden und gleichsam fast schon sichtbaren Angriff für die Zulässigkeit einer vorwegnehmenden Selbstverteidigungsmaßnahme.

Gleichwohl kann man zu dem Ergebnis kommen, dass das Konzept der preemptive self-defense mit dem Völkerrecht vereinbar ist.

Die fünf authentischen Sprachfassungen des Art. 51 UN-Charta sind im Sinne einer rein reaktiven Interpretation nicht so eindeutig, wie man auf den ersten Blick annimmt. Die Systematik zeigt die besondere Eigenständigkeit des Selbstverteidigungsrechts, das im Rahmen der Genese nur zufällig im Text der UN-Charta positiviert wurde. Der Teleologie des Art. 51 UN-Charta kann nicht entnommen werden, dass die Effektivität des Selbstverteidigungsrechts zu Gunsten einer streng reaktiven Interpretation beschränkt werden sollte. Art. 51 UN-Charta ist hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit vorwegnehmender Selbstverteidigung auch in Gestalt der preemptive self-defense sibyllinisch –Art. 51 UN-Charta erlaubt sie nicht, verbietet sie aber auch nicht.

Damit ist Art. 51 UN-Charta offen für das völkergewohnheitsrechtliche Selbstverteidigungsrecht in Gestalt der Websterformel. Diese zielte darauf ab, eine völkerrechtliche Rechtfertigung der Versenkung der Caroline im Jahr 1837 durch ein britisches Kommandounternehmen nicht zu ermöglichen oder zumindest zu erschweren. Insofern ist sie einerseits recht restriktiv gefasst:

“It will be for that Government to show a necessity of self-defence, instant, overwhelming, leaving no choice of means, and no moment of deliberation.”

Andererseits ist sie jedoch dadurch flexibel, dass sie impliziert, dass jede Anwendung einer vorwegnehmenden Selbstverteidigung anhand des konkreten Einzelfalls beurteilt werden muss. Dies wird in der Korrespondenz zwischen Webster und Lord Ashburton auch explizit bestätigt. Das Selbstverteidigungsrecht hat damit einen besonders situativen Charakter.

Im Rahmen der Einzelfallbeurteilung sind dann auch die Besonderheiten des modernen Gefechtsfelds zu berücksichtigen. Moderne Luftstreitkräfte und ballistische Raketen haben Vorwarnzeiten auf Minuten oder Sekunden reduziert. Entsprechend wird auch von einer Echtzeit-Technologie auf dem Gefechtsfeld gesprochen.

Das von der herrschenden Lehre geforderte Abwarten auf einen fast sichtbaren oder unmittelbaren Angriff macht das Selbstverteidigungsrecht somit im 21. Jahrhundert illusorisch.

Keine konkrete Bedrohung

In der derzeitigen Situation dürften Selbstverteidigungsmaßnahmen jedoch auch nach dem Konzept der preemptive self-defense nicht erlaubt sein. Nach dieser ist nämlich eine konkrete Bedrohung dahingehend, dass man von einem Angriff auszugehen hat, Voraussetzung. Momentan kann wohl noch nicht von einem baldigen Angrif auf Südkorea, Japan oder die USA ausgegangen werden. Ein konkreter Wille zum Angriff dürfte nicht gegeben sein. Die Hwasong-10 Raketen basieren auf Scud Raketen, diese wiederum sind sowjetische Nachbauten  der V2 Raketen aus dem Zweiten Weltkrieg. Deren Steuerungsfähigkeit und Reichweitensteigerung ist entsprechend begrenzt. Über Interkontinentalraketen verfügt Nordkorea nach Expertenmeinungen derzeit noch nicht. Damit befinden sich die USA ohnehin grundsätzlich außer Reichweite, nicht aber Südkorea und Japan. Beide Staaten dürften aber nicht einer atomaren Bedrohung ausgesetzt sein. Es ist nämlich sehr zweifelhaft, dass Nordkorea schon über einen funktionsfähigen Atomsprengkopf verfügt.

Die Bereitschaft, das Selbstverteidigungsrecht weit auszulegen, ist im Übrigen nicht auf eine besondere Administration der USA beschränkt. Die Clinton-Administration soll bereits Anfang der 90er Jahre die Bombardierung nordkoreanischer Atomanlagen in Betracht gezogen haben.

 

Dr. Christian Richter ist Rechtsanwalt auf dem Gebiet des internationalen Wirtschaftsrechts sowie Dozent für Völkerrecht, Staatsrecht und Rechtsphilosophie an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.

 

Cite as: Christian Richter, “Preemptive Self-Defense? Not yet!”, Völkerrechtsblog, 12 June 2017, doi: 10.17176/20190423-133430-0.

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Christian Richter
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