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Konstitutionelles Sultanat versus US-amerikanisches Präsidialsystem

01.05.2017

Die Türkei hat am 16. April 2017 ein Verfassungsreferendum durchgeführt. Eine knappe (noch umstrittene) Mehrheit von 51,4 % der Wähler hat sich für die Einführung eines Präsidialsystems ausgesprochen. Damit steht der nach dem Ersten Weltkrieg entstandene türkische Staat vor einem epochalen Regimewechsel: Die Verfassungsänderung (vgl. für englische Übersetzung hier) ersetzt das parlamentarische System durch ein „Präsidialsystem alla turca“. Ab 2019 entfällt das Amt des Regierungschefs (Ministerpräsidenten); der Präsident wird zukünftig Parteipräsident, Staatsoberhaupt, Regierungschef und Oberbefehlshaber (Art. 104) zugleich sein und prägt damit nicht nur die Exekutivgewalt, sondern auch Legislative und Judikative. An einem Scheideweg zwischen einer demokratischen Zukunft westlicher Prägung mit EU-Ambitionen und der Rückkehr zu einem halbdemokratischen autoritären Regime scheint die Entscheidung zugunsten des Letzteren gefallen zu sein.

Was passiert nun? Die 18 Artikel des Referendums werden schrittweise umgesetzt, bis die Verfassungsänderung Ende 2019 vollständig abgeschlossen ist. Drei Verfassungsartikel treten sofort in Kraft. Der Präsident wird vom Gebot zu parteipolitischer Neutralität entbunden und kann der AKP beitreten und sie präsidieren. Die Zahl der Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte (HSYK), dem obersten Kontrollorgan der Justiz wird von 23 auf 13 reduziert, wobei vier davon Präsident direkt ernennen kann. Zudem werden Militärgerichte abgeschafft und zwei Militärrichter aus dem Verfassungsgericht verbannt.

Vergleich des türkischen Modells mit dem Präsidialsystem in den USA

Eine Besonderheit des Präsidialsystems liegt in der Existenz der doppelten Legitimität bzw. in der getrennten Wahl von Exekutive und Legislative. In den USA und in Frankreich wird der Präsident in einem von der Parlamentswahl separaten Wahlverfahren gewählt. Deswegen ist der Präsident unabhängig vom Parlament und kann von einer anderen politischen Partei gewählt werden als derjenigen, die über die Parlamentsmehrheit verfügt. Im Gegensatz dazu werden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am gleichen Tag gehalten (Art. 77). Der Präsident ist zwar unabhängig vom Parlament, nicht aber das Parlament von ihm. Durch zeitgleiche Wahl vom Präsidenten und Parlament wird sichergestellt, dass der Präsident immer von derjenigen Partei gewählt wird, die über die Parlamentsmehrheit verfügt. Das türkische Parteienrecht sieht zudem keine Vorwahl vor. Die Abgeordnetenkandidaten der AKP werden von der Parteispitze ausgewählt. In der Rolle des Parteichefs wird der Präsident künftig auch die Abgeordneten seiner „Regierungspartei“ bestimmen und dadurch einen großen Einfluss auf das Parlament ausüben. Die Tatsache, dass der Präsident die Abgeordneten der Regierungspartei und 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichts (Art. 146) wählt, macht außerdem seine Absetzung fast unmöglich, obwohl die Verfassungsänderung ein Verfahren zur Amtsenthebung des Präsidenten – wie in den USA (Impeachment; Art. 105) – vorsieht.

Anders als das französische Modell und wie das US-amerikanische Präsidialsystem sieht das türkische Modell keinen Posten des Ministerpräsidenten vor. Der Präsident muss die Macht nicht mit einem Ministerpräsidenten teilen (Art. 101). Er benötigt damit keine Unterstützung der Mehrheit des Parlaments mehr; darin liegt ein wichtiger Unterschied zum französischen Semi-Präsidialsystem. Ein Vorteil liegt darin, dass es nie zur „Cohabitation“ kommt, was in Frankreich immer dann vorkommt, wenn eine andere Partei als diejenige des Präsidenten über die Parlamentsmehrheit verfügt und den Ministerpräsidenten stellen kann.

In den USA hängt die Amtszeit des Präsidenten nicht von der Unterstützung des Parlaments ab. Auch das türkische Modell sieht dies so vor – mit einem feinen Unterschied, dass es die Amtszeit des Parlaments von den Interessen des Präsidenten abhängig macht. Denn anders als in den USA verfügt der türkische Präsident über das Recht, jederzeit das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen. Für das Staatsoberhaupt sieht die Verfassungsänderung zwei fünfjährige Amtsperioden vor. Diese Änderung tritt in November 2019 in Kraft. Damit beginnt die Zeitrechnung neu. 2019 endet zudem die gegenwärtige Amtszeit Erdogans. Dann werden erstmals zeitgleich Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stattfinden (Art. 77). Ab 2019 werden die zwei Amtszeiten (2024, 2029) nach dem Referendumsvorschlag neu beginnen. Bei einer erfolgreichen Wiederwahl könnte Erdogan bis 2034 im Amt bleiben, wenn er in der zweiten Amtszeit (2029) das Parlament vorzeitig auflösen und Neuwahlen ausrufen würde (Art. 116).

Das US-amerikanische Modell sieht ein relativ hohes Maß an Trennung zwischen Exekutive und Legislative vor. Artikel 2 der US-amerikanischen Verfassung auferlegt nur die exekutive Gewalt dem Präsidenten. Die jüngste türkische Verfassungsreform hebt allerdings die Gewaltenteilung auf und stellt die drei Gewalten mittelbar und/oder unmittelbar unter die Kontrolle des Präsidenten. Der Präsident hat nicht nur exekutive Gewalt inne, sondern kann unmittelbar Einfluss auf die Legislative und Judikative ausüben. Künftig beherrscht der Präsident: die Exekutive als Regierungschef; die Verwaltung durch die Wahl der hohen Staatsbediensteten; die Legislative aufgrund seiner Präsidialkompetenz, das Parlament aufzulösen und Neuwahlen auszurufen, sowie durch die Wahl der Abgeordneten der regierenden Partei (als Parteipräsident); und schließlich die Judikative durch die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichts sowie der Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte.

Die Legislative auf föderaler Ebene in den USA besteht aus dem Kongress, der sich aus dem Senat und dem Repräsentantenhaus zusammensetzt. Der Senat verfügt dabei über wichtige Aufsichts- und Zustimmungsrechte bei Personalentscheidungen des Präsidenten. So bedarf die Ernennung der Minister, der Richter des Supreme Cours, der Direktoren exekutiver Bundesbehörden sowie Botschafter und Konsuln der Zustimmung des Senats. Im Vergleich dazu ist die Türkei ein Zentralstaat mit einem Einkammersystem. Anders als in den Vereinigten Staaten hat die Reform der türkischen Legislative kein Mitspracherecht bei Personalentscheidungen des Präsidenten auferlegt. Der Präsident wird künftig Vizepräsidenten, Minister, hochrangige Staatsbeamte, 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichts und 6 von 13 Mitgliedern des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte ohne Konsultation des Parlaments ernennen (Art. 104). Anders als die gegenwärtige Verfassung darf der türkische Präsident zudem zukünftig den Ausnahmezustand ohne Zustimmung des Parlaments ausrufen (Art. 119).

Die gesetzgebende Gewalt auf föderaler Ebene in den USA teilen sich der Senat und das Repräsentantenhaus. Ein Gesetz wird mit Zustimmung einer einfachen Mehrheit jedes Hauses verabschiedet und anschließend dem Präsidenten unterbreitet. Der Präsident hat keine Gesetzesinitiative, sondern nur ein Vetorecht gegenüber den Gesetzesvorlagen des Kongresses. Der Kongress kann jedoch ein Veto des Präsidenten durch Zweidrittelmehrheit jedes Hauses außer Kraft setzen. Der Präsident kann dem Kongress Gesetzesinitiativen vorschlagen, aber der Kongress ist nicht verpflichtet, auf seine Empfehlungen hin zu handeln. Das türkische Parlament behält zwar weiterhin seine Kompetenz, Gesetzesentwürfe einzubringen (Art. 87), der Präsident kann allerdings ein Veto dagegen einlegen. Anders als in den USA kann er selber Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die keiner Zustimmung des Parlaments bedürfen. Zwar kann auch der US-Präsident Dekrete (Executive Orders, Artikel II der US-Verfassung) erlassen, die nicht die Zustimmung des Kongresses benötigen. Sie dürfen aber kein neues Recht schaffen, sind nur zur Erläuterung bereits bestehender Gesetze oder Verfassungsbestimmungen erlaubt und für die der Exekutive unterstehenden Behörden und Amtsträger rechtsbindend. Die türkischen Dekrete mit Gesetzeskraft entziehen dem Parlament faktisch die alleinige legislative Kompetenz und machen den nach dem versuchten Militärputsch ausgerufenen und seither dreimal verlängerten Ausnahmezustand zum Normalfall. Schließlich kann der Präsident jederzeit das Parlament auflösen und neue Gesetze per Veto blockieren, während die Regierung – wie in den USA – nicht mehr per Misstrauens- oder Vertrauensvotum abgesetzt werden kann, da sie nicht mehr vom Parlament bestätigt werden muss.

Das Prinzip von „Checks and Balances“ bedeutet, dass die Exekutivhoheit des Präsidenten durch die Finanzhoheit des Kongresses ausgeglichen wird. Für den Staatshaushalt braucht die Exekutive in den USA die Zustimmung des Parlaments. Das türkische Modell sieht zwar auch die Zustimmung des Parlaments vor. Die Entscheidungsmacht des Parlaments über den Staatshaushalt und damit die Gewaltenteilung wird aber damit umgangen, dass für den Fall einer Ablehnung durch das Parlament das Budget des Vorjahres an die Inflation angepasst in Kraft gesetzt wird (Art. 161). Einen entscheidenden Einfluss auf die Legislative übt der Präsident vor allem dadurch, dass er nun einer Partei zugehören, dieser auch vorsitzen und ihre Abgeordnetenkandidaten wählen darf.

Auf die Judikative übt der Staatschef seinen Einfluss dadurch, dass er 12 von 15 Richtern des Verfassungsgerichts (Art. 146) und 6 von 13 Mitgliedern des Hohen Rates der Richter (Art. 159) und Staatsanwälte direkt wählt. Auf die Auswahl der restlichen 7 Ratsmitglieder, die formell vom Parlament gewählt werden, wirkt er dadurch ein, dass er seinen Einfluss als Parteichef auf die Parlamentarier ausüben kann. Bisher waren es Vertreter der Justiz, welche die Mehrheit der Ratsmitglieder auswählten. In den USA bedarf die Ernennung der Richter des Supreme Courts der Zustimmung des Senats. Auch Venedig Kommission (Rn. 95) sieht in dieser Änderung eine Beeinflussung der Judikative durch Exekutive.

Konstitutionelles Sultanat?

Die Hauptmerkmale eines Präsidialsystems liegen z.B. in Verfahren, in denen der Regierungschef ausgewählt und aus dem Amt entlassen wird, in den Befugnissen des Regierungschefs bei der Vorlage oder zum Veto der Gesetze sowie in der Struktur und der Ausgestaltung der Zuständigkeiten der Legislative.

Was diese Merkmale angeht, weist das türkische Präsidialsystem weder Ähnlichkeiten zum französischen noch zum US-amerikanischen Präsidialsystem auf. Wegen der dominanten Rolle des Präsidenten weist es zwar Ähnlichkeiten zum russischen Modell auf; wie das französische Modell sieht aber auch dieses Modell ein Amt des Ministerpräsidenten vor.

Das türkische Modell des Präsidialsystems ist Personifizierung der Politik par excellence. Die ständige Suche nach formeller und informell-populärer Legitimation der Handlungen des Präsidenten führte zur zunehmenden Personalisierung der Politik, was das parlamentarische System seit der Machtübernahme der AKP schrittweise seiner Bedeutung beraubt hat. Vor dem historischen Hintergrund und aufgrund der Aufhebung des Prinzips der Gewaltenteilung wäre es nicht verfehlt, dieses Modell „konstitutionelles Sultanat“ zu nennen.

 

Dr. iur. Hüseyin Celik ist Postdoktorand an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich und Gastwissenschaftler an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

 

Cite as: Hüseyin Celik, “Konstitutionelles Sultanat versus US-amerikanisches Präsidialsystem”, Völkerrechtsblog, 28 April 2017, doi: 10.17176/20190423-134124-0.

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Hüseyin Celik
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