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Gibt es noch Hoffnung für überstaatliche Demokratie?

Plädoyer für einen wehrhaften Internationalismus

12.09.2018

In seinem Interview auf diesem Blog vertritt Armin von Bogdandy die Position, dass sich die Rahmenbedingungen für überstaatliche Demokratie in den letzten Jahren verschärft hätten. Zwar zeigt er sich überzeugt, dass die überlieferten Prinzipien demokratischen Regierens im Grundsatz auch weiterhin für überstaatliche Ebenen maßgeblich und sinnvoll seien. Es müsse jedoch gelingen, die Entfremdung bestimmter Bevölkerungsteile von überstaatlichen Institutionen zu überwinden und den in vielen Ländern (wieder-)auferstandenen autoritären Nationalismus institutionell einzufangen.

Im Folgenden entwickle ich einige Gedanken, ob und wie dies gelingen mag. Dazu ist zunächst eine genaue Analyse der beobachteten Bedrohung der überstaatlichen Demokratie durch Entfremdungsprozesse und autoritären Nationalismus erforderlich. Daraus folgere ich, soviel sei vorweggenommen, dass sich die überlieferten Prinzipien demokratischen Regierens nicht mehr linear auf überstaatliche Ebenen extrapolieren lassen. Vielmehr müssen die Mechanismen demokratischer Repräsentation neu überdacht werden.

Bereits auf staatlicher Ebene funktionieren die Mechanismen demokratischer Repräsentation nur noch eingeschränkt. Die Volksparteien befinden sich in freiem Fall, allen voran die Sozialdemokratie. Das seit Ende des 19. Jahrhunderts vertraute Parteienspektrum existiert bald nicht mehr. Lediglich in den USA mit ihrem strukturell bedingten Zweiparteiensystem gelingt die Regierungsbildung noch ohne eine ideologisch widersprüchliche, ständig vom Untergang bedrohte Koalition; allerdings zeigen dort beide große Parteien starke zentrifugale Tendenzen.

Auf der Suche nach den Ursachen hilft ein Blick auf die Soziologie, genauer gesagt auf zwei vielbesprochene Werke aus den letzten zwei Jahren, beide von Meistern ihres Fachs verfasst. Andreas Reckwitz beschreibt in der „Gesellschaft der Singularitäten“ den Wandel der Industriegesellschaft in der Nachkriegszeit. Industrielle Massenproduktion habe den Lebensstandard ansteigen lassen, ermöglicht durch normierte Ausbildung und Arbeitsabläufe. Diese Produktionsweise sei durch eine „Logik des Allgemeinen“ normativ überformt worden. Es habe also als erstrebenswert gegolten, sich an einheitlichen Lebensentwürfen zu orientieren, nicht aus dem Rahmen zu fallen. Genau dies ändere sich nun in der Spätmoderne. Der höhere Lebensstandard erwecke den Wunsch nach Selbstverwirklichung, damit nach Abgrenzung von der „Logik des Allgemeinen“. Zugleich verlagere sich der Schwerpunkt der wirtschaftlichen Entwicklung von der Produktion von Standardgütern (z.B. Mensaessen) auf Güter der creative economy, die sich von der Masse abheben (z.B. Sternekoch). Beide Prozesse bedingten sich gegenseitig. Globalisierung und Digitalisierung stifte ihnen eine ungeheure Dynamik, weil nun jeder von uns seine eigenen Online-Profile erstellen oder individualisierte Waren ordern könne. Ein Effekt dieser gesellschaftlichen Singularisierung sei nun die Erosion von Gruppenidentitäten. Wer sich partout von der Masse abheben möchte, tue sich schwer, sich als Teil einer solchen Masse zu begreifen. Zugleich produziere die Singularisierung Ungleichheiten: An den Schalthebeln der globalen Kulturindustrie säßen nur einige wenige Mark Zuckerbergs und Emma Watsons – und die seien für die Produktion ihrer Kulturgüter auf immer weniger Menschen angewiesen. Das Ergebnis sei eine grassierende gesellschaftliche Entsolidarisierung.

Eine ähnliche Stoßrichtung verfolgt Oliver Nachtwey in seiner „Abstiegsgesellschaft“. Im Vergleich zu Reckwitz argumentiert er stärker ökonomisch und weniger kulturalistisch. Er führt die derzeitige Misere auf eine Paradoxie des Kapitalismus zurück, nämlich den Kapitalismus fast ohne Wachstum. Die Krisen der 1970er seien bereits erste Zeichen eines Postwachstumskapitalismus gewesen, in dem die Profitrate der Unternehmen beständig sinke. Die Gründe dafür seien komplex; neben Marktsättigung gehöre dazu vor allem der Siegeszug des Finanzkapitalismus, dessen Fokus auf kurzfristige Renditen zu einem Rückgang langfristiger Investitionen geführt habe. Zwar hätte das Wachstum der Finanzbranche diese Effekte längere Zeit überlagert. Erst nach der Finanzkrise seien sie wieder sichtbar geworden. Die Digitalisierung erzeuge allein keine ausreichenden Wachstumsimpulse, um den allgemeinen Rückgang der Profitrate auszugleichen. Ohne Wachstum stiegen aber gesellschaftliche Spannungen, da soziale Ungleichheit in der Vergangenheit v.a. durch Verteilung des neuen Wachstums gelindert worden sei, nicht durch Umverteilung der vorhandenen Vermögenswerte. Natürlich habe die wirtschaftliche und gesellschaftliche Liberalisierung auch individuelle Handlungschancen eröffnet. Doch dies verschärfe eher die Konkurrenz, denn nun bekomme der einzelne vermittelt, auf einer nach unten fahrenden Rolltreppe nach oben rennen zu müssen. Auch Nachtwey sieht deshalb Entsolidarisierungsprozesse am Werk.

Nun haben sich derartige soziologische Großtheorien in der Vergangenheit oft nur zum Teil bewahrheitet. Man denke etwa an die zahlreichen Schwanengesänge auf die Klassengesellschaft. Seitdem im Zuge der Krise die Sensibilität dafür gestiegen ist, wie hartnäckig sich materielle Ungleichheit in der Gesellschaft reproduziert, gewinnt der Klassenbegriff wieder an Boden. Jedoch stoßen hier zwei Autoren mit ganz unterschiedlichen methodischen Ansätzen in das gleiche Horn und bestätigen dabei auch noch den von führenden Ökonomen, darunter Thomas Piketty und Joseph Stiglitz, beobachteten Anstieg gesellschaftlicher Ungleichheit. Man kann diese Theorien also nicht mit leichter Hand beiseite wischen.

Hat die repräsentative Demokratie unter diesen Voraussetzungen noch eine Chance? Das hergebrachte Modell der Volksparteien wohl kaum. Sie bilden die relevanten gesellschaftlichen Konfliktlinien nicht mehr ab. Auf die Angst vor kultureller oder wirtschaftlicher Marginalisierung haben die Volksparteien mit ihrem Modell von Wachstum und Vollbeschäftigung immer weniger eine plausible Antwort. Es ist auch fraglich, ob die daraus entstehende Krise der Repräsentation sich durch einfache Verschiebungen in der Parteienlandschaft beheben ließe, also etwa durch institutionelle Einbindung der in der gesamten westlichen Welt und z.T. auch darüber hinaus neu entstandenen rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien. Denn die Zugehörigkeit zu jedweder Partei setzt, soll sie die repräsentative Demokratie erfolgreich stärken, ein gewisses Maß an Solidarität und Gruppenzugehörigkeit voraus. Dem stehen die Entsolidarisierungsprozesse im Wege, welche den neuen rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien die Anhänger zutreiben – und manchmal auch neuen zentristischen Parteien wie Macrons „En Marche“. Sie werden denn auch mehr von Wut oder Personenkult als von weithin geteilten Gemeinschaftsinteressen zusammengehalten; ihre Identität ist im Wesentlichen negativ bestimmt durch die Abgrenzung gegenüber dem alten System oder allen als fremd eingeordneten Menschen. Trotz gegenteiliger Bekenntnisse ist das hergebrachte Modell demokratischer Repräsentation für diese Parteien nicht attraktiv, da es auf Diskurs statt auf Emotion setzt. Mithin arbeiten sie oft an seiner Zerstörung, sobald sie irgendwo an die Macht gelangen.

Damit ist es um die repräsentative Demokratie insgesamt recht schlecht bestellt. Das trifft in verschärftem Maße auf überstaatliche Institutionen zu, die meist fernab von staatlicher Politik operieren und sich ohnehin nur eingeschränkt auf überstaatliche Parteien verlassen können. Selbst die Fraktionen des europäischen Parlaments bilden im Vergleich zu mitgliedstaatlichen Parteien allenfalls lose Verbände. Die Schwäche des Repräsentationsprinzips öffnet auf überstaatlicher Ebene Raum für das Souveränitätsprinzip: statt one person one vote also one state one vote. Die Dominanz des Souveränitätsprinzips hat mit Demokratie nicht viel zu tun; außerdem eröffnet es einen Resonanzraum für den autoritären Nationalismus. Das kann langfristig verheerende Auswirkungen haben.

Wie lässt sich Repräsentativität (wieder) herstellen? Oder ein demokratisches Gegengewicht zum Souveränitätsprinzip bilden? Langfristig nur durch die Herstellung größerer Gleichheit und Bekämpfung der ursächlichen Entsolidarisierung. Kurz- und mittelfristig bieten sich überstaatlichen Institutionen mehrere Strategien an:

  • Erstens sollten überstaatliche Institutionen mit der Einbindung der Zivilgesellschaft endlich ernst machen. Zwar sind zivilgesellschaftliche Verbände nicht repräsentativ und vertreten oft genug Sonderinteressen. Entscheidungsbefugnisse sollte man ihnen daher nicht übertragen. Sie brechen aber die intergouvernementale Struktur auf und bilden damit ein wichtiges Korrektiv des Intergouvernementalismus. Auch bieten sie für marginalisierte Interessen eine Chance. Man könnte ihrer Einbindung Gewicht verleihen, indem man beispielsweise überstaatlichen Institutionen zivilgesellschaftliche Gremien anfügt, die Entscheidungen vielleicht nicht verhindern, aber verzögern können, oder Themen auf die Agenda setzen können. Um eine halbwegs ausgewogene Vielfalt zivilgesellschaftlicher Stimmen einzufangen, empfiehlt sich für überstaatliche Institutionen deren aktive Förderung.
  • Einen Schritt weiter ginge die direkte, wenngleich unverbindliche Befragung der Bevölkerung. Durch das Internet gibt es hierfür neue, längst bekannte Teilnahmeformen. Die Abstimmung über die Abschaffung der Zeitumstellung in der EU ist ein erstes Beispiel. Natürlich sind auch solche Prozesse nicht davor gefeit, zum Vehikel gut organisierter Interessen zu werden – sofern überstaatliche Institutionen nicht aktiv gegensteuern, z.B. durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit. Auch sind die Menschenrechte, insbesondere die Rechte von Minderheiten, vor direktdemokratischen Übergriffen zu schützen.
  • Drittens lohnt sich ein neuer Blick auf die vielgescholtene Technokratie. Zwar beruhen viele überstaatliche Institutionen auf einem funktionalistischen Gründungsmythos, auch die EU: Eine technokratische Rationalität kann fundamentale politische Differenzen allenfalls überdecken, nicht überwinden. Nachdem dieser Mythos ausgiebig entlarvt wurde, lässt sich aber im Zeitalter von Fake News vielleicht der Wert einer an den Kriterien von Richtigkeit, Wahrheit und Wahrhaftigkeit orientierten Entscheidungsfindung wiederentdecken. Nach diesen Kriterien gewonnene Informationen sind als Grundlage einer letztlich immer politisch bleibenden Entscheidung unabdingbar. Vielleicht stellen wirklich unabhängige, pluralistisch besetzte überstaatliche Sekretariate eine Möglichkeit für öffentliche Institutionen dar, um Vertrauen bei radikalisierten Bevölkerungssegmenten zurückzugewinnen und eine Re-Rationalisierung des Diskurses einzuleiten?
  • Viertens kommt staatlichen Höchstgerichten und überstaatlichen Gerichten eine entscheidende Rolle dabei zu, die Zerstörung demokratischer Verfahren und Institutionen, ob auf staatlicher oder überstaatlicher Ebene, bereits im Keim zu ersticken und nicht zu scheuen, Ross und Reiter zu benennen. Die Strategie des „appeasement“ ist bisher noch immer gescheitert. Sie ist auch nicht vereinbar mit dem Geist der Mehrheit der überstaatlichen Institutionen, welche nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, um Frieden und Wohlstand zu sichern. Ihre Statuten sind daher im Sinne eines „wehrhaften Internationalismus“ zu verstehen, der illegitime Versuche ihrer Torpedierung nicht zulässt.

Keine dieser Strategien ist perfekt; keine von ihnen entspringt dem Lehrbuch der repräsentativen Demokratie. Und dennoch könnte die Kombination dieser Mechanismen ein Gegengewicht zum reinen Intergouvernementalismus darstellen. Ließe man Letzterem freie Bahn, würden internationale Institutionen leicht zum Spielball des autoritären Nationalismus. Natürlich bieten die Strategien keinen perfekten Schutz gegen Letzteren. Perfekte Alternativen sind jedoch rar; auch erscheint diese Klage zunehmend wohlfeil, denn es geht langsam eigentlich nur noch darum, weitaus schlimmere Katastrophen zu verhindern.

 

Matthias Goldmann ist Juniorprofessor für Internationales Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Goethe-Universität Frankfurt und Senior Research Affiliate am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg.

 

Cite as: Matthias Goldmann, “Gibt es noch Hoffnung für überstaatliche Demokratie? Plädoyer für einen wehrhaften Internationalismus”, Völkerrechtsblog, 12. September 2018, doi: 10.17176/20180918-181621-0.

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Matthias Goldmann
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9 Comments
  1. Sehr geehrter Herr Rau,

    vielen Dank für Ihre Antwort.

    Ich glaube Sie und ich verwenden verschiedene Kontexte, in denen wir des “geltende Recht” analysieren (zum Beispiel finde ich interessant, dass ein großer Teil der Vertragsstaaten des IPbpR zum Zeitpunkt dessen Aushandlung noch nicht existierte und die politisch-rechtlichen Umstände für die Existenz dieser Staaten auch Einfluss auf deren Beitritt zum Vertrag hatten).

    Ich würde die Interessante Diskussion mit Ihnen gerne vertiefen. Vielleicht ist die Kommentarspalte zu Herrn Goldmanns Beitrag nicht der richtige Ort. Leider habe ich Ihre E-Mail Adresse nicht. Sie können mich, falls Sie an einer weiteren Diskussion überhaupt interessiert sein sollten, unter edward.martinuni-hamburg.de erreichen.

    Beste Grüße,
    Edward Martin

    Beste Grüße,
    Edward Martin

  2. Sehr geehrter Edward,

    vielen Dank für Ihre Erwiderung auf meinen Kommentar.

    Zu Ihren beiden Anmerkungen:

    1) Ich wollte ich Ihnen keineswegs das Recht absprechen, Kritik an der Position von Herrn Goldmann zu formulieren. Im Gegenteil, begrüße ich gerade die kontroverse Auseinandersetzung, die – solange sie mit rationalen Argumenten geführt wird – die Chance bietet, dass am Ende alle Seiten schlauer aus ihr herausgehen. Mein Punkt war ein anderer:

    Ohne in die Untiefen der Wissenschaftstheorie abdriften zu wollen, glaube ich, dass es eine der zentralen Aufgaben der Rechtswissenschaft ist, überzeugende, anschlussfähige Erzählungen (“Narrative”) dazu zu formulieren, was als “das geltende Recht” begriffen werden kann. In diesem Sinne, so scheint mir, geht Herr Goldmann in seinem Beitrag davon aus, dass ein elementarer Kern dessen, was wir als Demokratie verstehen, auch auf globaler Ebene – also im universellen Völkerecht – Geltung zukommt. Herr Goldmann will nirgendwo militärisch intervenieren, und er beansprucht auch keine Deutungshoheit. Er macht als Wissenschaftler in der “scientific community” schlicht ein Angebot für eine Deutung. (Wobei es ihm in seinem Beitrag an sich nicht primär um die Geltung des Demokratieprinzips im Völkerrecht ging – die er voraussetzt -, sondern um dessen Sicherung durch besondere Mechanismen, die als “Gegengewicht zum reinen Intergouvernementalismus” gedacht sind.) Unabhängig davon, ob seine Meinung nicht ohnehin bereits der sog. “herrschenden Meinung” entspricht, könnte sie es doch zumindest werden. Das liegt vor allem an der Überzeugungskraft seiner Argumente. Bestenfalls folgen ihm am Ende auch internationale Gerichte – auf die es, was die Geltungsfrage angeht, besonders ankommen dürfte.

    Wie bereits in meinem letzten Kommentar angedeutet, hat Herr Goldmann für sein “Deutungsangebot” tatsächlich auch gute Argumente auf seiner Seite. So diffus der Demokratiebegriff an seinen Rändern auch sein mag, so erscheint sein Kerngehalt unter Heranziehung der Erkenntnisse aus Rechtsvergleichung, Verfassungstheorie, politischer Wissenschaft und Philosophie gleichwohl doch weit weniger unklar. Und dieser Kerngehalt kann eben mit guten Gründen auch als im universellen Völkerrecht verankert angesehen werden. Der 2003 in der ZaöRV (S. 853 ff.) erschienene Beitrag “Demokratie, Globalisierung, Zukunft des Völkerrechts – eine Bestandsaufnahme” von Armin von Bogdandy, der Anlass für das Interview auf dem Völkerrechtsblog war, auf das wiederum Herr Goldmann sich mit seinem Beitrag bezieht, hat hierzu unter der Überschrift “Was ist Demokratie?” (S. 858 f.) bereits das Nötige zusammengefasst – einschließlich der Grenzen des Konsenses. Im Übrigen sei hier auch nochmals gesondert auf Art. 25 IPbpR hingewiesen, der eben doch zumindest bereits einige wesentliche Aspekte dessen abdecken könnte, was den Kern der Demokratie ausmacht. (Die Norm beinhaltet immerhin auch den Repräsentationsgedanken sowie die Forderung nach “echten, wiederkehrenden, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen”). Der IPbpR hat m.W. z.Zt. 172 Vertragsstaaten.

    2) Wenn man Herrn Goldmanns “Deutungsangebot” in Zweifel ziehen will, so muss man dies mit inhaltlichen Gründen tun. Darauf zielte mein Hinweis auf das “argumentum ad hominem”. Letzteres stellt die Überzeugungskraft eines Arguments unter Verweis auf dessen Urheber in Abrede. Ihr Argument, bei den “überlieferten Prinzipien demokratischen Regierens” handele es sich um “Prinzipien, die lediglich ein historisches Phänomen einer vergleichsweise kleinen Region der Welt darstellen”, ist selbstredend nicht identisch mit einem solchen “argumentum ad hominem”. Es erscheint mir damit aber insofern strukturell vergleichbar, als sie mit ihm ebenfalls gerade keine inhaltlichen Gründe benennen, die einer Universalisierung dieser Prinzipien entgegenstehen könnten, sondern sich ausschließlich auf deren Historie und Herkunft beziehen. Es bleibt dabei letztlich völlig offen, was Sie dem Verweis auf die parallelen Begründungsansätze in der nicht-westlichen Literatur, die entsprechenden Bestrebungen auf UN-Ebene, Art. 25 IPbpR etc. in der Sache entgegenhalten. Das kulturrelativistische Argument scheint mir am Ende eben kein selbsttragendes Argument zu sein; es fehlt an einer weitergehenden überzeugenden und anschlussfähigen Erzählung, warum selbst die von Herrn Goldmann (allein) angesprochenen “absoluten Grundprinzipien” der Demokratie keine universelle (Rechts-) Geltung beanspruchen können sollen (wie Sie meinen).

  3. Sehr geehrter Herr Rau,

    natürlich steht es Herrn Goldmann frei sich für die globale Geltung eines bestimmten Demokratieverständnisses einzusetzen. Bedeutet das aber, dass mir Kritik nicht frei steht?

    Auch verstehe ich ihren Vorfurw, mein Argument, dass es sich beim westlichen Demokratieverständnis um ein regional entwickeltes
    Phänomen ohne inherente Universaälitai handelt, sei vergleichbar mit einem “argumentum ad hominum” nicht. Oder setzen Sie die Personlichkeit eines Menschen mit westlichem Demokratieverständnis gleich.

    Sehr geehrter Herr Goldmann,

    ich freue mich, dass wir dem eigentlichen Punkt unserer unterschiedlichen Auffassung näher kommen.

    Mir geht es nicht um das Gutheißen diktatorischen Regierens, und ich kann meinem Kommentar auch an keiner Stelle solch eine Idee entnehmen. Jedoch finde ich die (Sie nennen es ) Kulturfremdheit des “westlichen” Domokratieverständnisses bezogen auf andere Regionen der Welt offensichtlich.

    Zur Klarstellung: mir geht es in der Tat um die Deutungshoheit darüber, was als Demokratie zählt und was nicht. Ich finde, dass wir Global bei weitem noch nicht über den Punkt hinaus sind. Diese Frage müsste tiefer debattiert werden, denn ich halte es für keinesfalls offensichtlich was die “absoluten Grundprinzipien” der Demokratie sind (es sei denn, man bedient sich eines westlichen Verständnisses). Das Wort Demokratie gibt nämlich nichts weiter her als die Herrschaft des Demos. Wenn man den Begriff weiter füllen möchte, so bedient man sich der Werke von Denkern, die sich darüber gedanken gemacht haben, was das eigentlich bedeutet und man schaut auf die Praxis. Diese Kombinat scheint nah an dem zu sein was Sie “überlieferte Grundsätze” nennen. Nur stammen sowohl die (historischen) Theoretiker als auch die praktischen Anwendungsfälle aus einer vergleichsweise kleinen Weltregion. Deswegen stellt sich die Frage, was mit Demokratie eigentlich gemeint ist, auch für internationale Institutionen.

    Wir sollten dabei nicht vergessen, dass (vermeintlich) demokratische Grundsätze selbst nicht viel bringen, wenn wir uns nicht tatsächlich über den Inhalt klar sind. “We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness” oder “Checks and Balances” wie Gewaltenteilung hat einem beachtlichen Teil der US-Ameriklanischen Bevölkerung für einen großteil des Bestehens dieses Staates nicht viel gebracht.

  4. Lieber Markus,
    vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich stimme Dir zu 100% zu, dass wirtschaftliche Ungleichheit die weltweiten Verwerfungen der pluralistischen Demokratie nicht allein erklärt. Ein weiterer, enorm wichtiger Erklärungsstrang betrifft Prozesse kultureller Entfremdung. Beide Ansätze schließen sich nicht aus, sondern ergänzen und überlappen sich.

    Lieber Edward,
    denken Sie nicht, dass Sie koloniale Diskurse perpetuieren, indem Sie den Gesellschaften des globalen Südens absprechen, selbstbestimmt (= demokratisch) leben zu wollen? Sie mögen ein emanzipatorisches Anliegen verfolgen, aber Sie erreichen das Gegenteil. Es gibt unzählig viele Manifestationen des Willens zur Demokratie in den Gesellschaften des globalen Südens, gerade auch in der Zivilgesellschaft. Das darf man ruhig ernst nehmen, bevor man sich (wenn auch womöglich unbeabsichtigt) zum Wasserträger zweifelhafter Diktatoren macht, die gerne dieses Lied von der Kulturfremdheit der Demokratie singen.

    Zur Kulturfremdheit ist zu sagen: Selbst sofern diese Gesellschaften ursprünglich oder auch noch heute Clanstrukturen o.a. vormoderne Organisationsformen aufweisen mögen, leben auch ihre Mitglieder in der spätkapitalistischen Moderne und machen sich ihre Errungenschaften zueigen, genau wie die Europäer sich schon immer die Errungenschaften anderer Kulturkreise zueigen gemacht haben. Gesellschaften sind lernfähig und wandeln sich beständig. Dass der Aufstieg von Demokratie als Leitprinzip für den globalen Süden letztlich mit Prozessen der Kolonialisierung und Globalisierung zusammenhängen mag, macht ihn nicht illegitim.

    Ich bin mit Ihnen allerdings einer Meinung, dass der Westen kein Deutungsmonopol beanspruchen darf, was als Demokratie gilt. Es ist vielmehr anzuerkennen, dass es eine Streubreite an Formen demokratischen Regierens gibt. Das wird im Westen oft nicht richtig ernst genommen, es kursieren hier immer noch viele schematische Demokratiemodelle, sowohl in der Wissenschaft als auch in der institutionellen Praxis. In meinem Beitrag habe ich mich allerdings mit Demokratie auf staatlicher Ebene gar nicht auseinandergesetzt, sondern nur mit den absoluten Grundprinzipien, denn nur an diesen kann man internationale Institutionen messen. Und selbst diese Grundprinzipien sind, wie ich zeigen wollte, einigermaßen voraussetzungsreich, so dass man sich heute überlegen muss, wie sie noch auf der Ebene internationaler Institutionen darstellbar sind.

  5. Lieber Matthias,

    vielen Dank für Deinen schönen Beitrag zu einem wichtigen Thema! Besonders gefreut hat mich, dass Du die Überlegungen von Andreas Reckwitz in die Diskussion eingeführt und für sie fruchtbar gemacht hast. Seine “Gesellschaft der Singularitäten” ist schon lange auf meiner Leseliste; aber bereits die Zusammenfassung in der F.A.S. (“Die alte und die neue Mittelschicht”, F.A.S. v. 22.10.2017, S. 46) hat mich extrem beeindruckt, vollauf überzeugt und nachhaltig beeinflusst.

    In Tagen, in denen selbst ein Ministerpräsident eines nicht eben unbedeutsamen deutschen Bundeslandes die “Zeit des geordneten Multilateralismus” am Ende sieht, muss einem um die internationalen Beziehungen, das Völkerrecht und die überstaatliche Demokratie in der Tat angst und bange werden. Dennoch bereitet mir die Zukunft der Demokratie auf nationaler Ebene derzeit fast noch mehr Sorge.

    Es erscheint mir richtig und wichtig, insoweit den Blick verstärkt auf die Erkenntnisse der Soziologie zu richten. (Das “Böckenförde-Diktum” traut man sich ja schon gar nicht mehr in den Mund zu nehmen). Auch teile ich die Einschätzung, dass eine gute Sozial- und Wirtschaftspolitik wesentlich zur Stabilisierung der Demokratie beitragen dürfte. Was die Bedeutung der materiellen Ungleichheit angeht, so scheinen allerdings verschiedene Untersuchungen aus unterschiedlichen politischen Richtungen darauf hinzudeuten, dass wirtschaftliche Gründe allein das Aufblühen des politischen Populismus und Radikalismus nicht abschließend erklären können (jedenfalls für Deutschland); u.a. wird in der aktuellen Diskussion auf die schon seit den 1970er-Jahren (mutmaßlich) zu beobachtende Verschiebung auf die kulturelle Konfliktlinie “Individualismus vs. Kommunitarismus” verwiesen (s. z.B. “Reich und frustriert”, F.A.S. v. 16.9.2018, S. 19). Letztlich könnte sich die Problematik damit also als vielschichtiger erweisen.

    @Edward: Mir erscheint es vollkommen unproblematisch, wenn Matthias Goldmann sich als (Rechts-) Wissenschaftler dafür einsetzt, dass ein bestimmtes Demokratieverständnis auf internationaler Ebene Geltung erlangt. Es muss ihm ja niemand folgen. Dass Herr Goldmann allerdings sowohl parallele Begründungsansätze in der nicht-westlichen Literatur als auch diverse Bestrebungen innerhalb der UNO auf seiner Seite hat, hat er selbst dargelegt. Im Übrigen gibt es zahlreichen Versuche in der “westlichen” politischen Philosophie, “unser” Demokratiemodell rational zu rekonstruieren (Kant, Rawls, Habermas, Höffe etc.). Das Argument, es handele sich um ein “regionales Phänomen”, das keinen “universellen Anspruch” erheben könne, scheint mir strukturell einem “argumentum ad hominem” vergleichbar. Anders gewendet: Welche inhaltlichen Gründe sollen gegen das Leitbild der Demokratie sprechen, das Herrn Goldmann vorschwebt? Ich für meinen Teil bin jedenfalls überzeugt davon, dass es zu diesem Modell keine ernstliche Alternative gibt. Auch Sie benennen ja letztlich kein alternatives Modell, das Sie normativ betrachtet zumindest auf einer ähnlichen Stufe verorten.

    Richtig ist aber natürlich, dass “der Westen” keinen Grund zur Überheblichkeit und Arroganz hat. Wenn man etwa sieht, wie sich der BGH noch im Jahr 1966 zu den ehelichen Pflichten der Frau gem. § 1353 BGB geäußert hat, wird deutlich, dass unser heutiges Verständnis von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten nicht in allen seinen Einzelheiten vom Himmel gefallen ist, sondern sich über die letzten Jahre und Jahrzehnte entwickelt hat.

  6. Noch ein kleiner Zusatz: Problematisch wird es meines Erachtens schon sehr weit vor der Grenze der militärischen Intervention. Hier geht es um Deutungshoheiten. Und aus Ihrem Beitrag wird deutlich (insbesondere anhand der Beispiele die Sie nennen), dass die Deutungshoheit darüber, was Demokratie ist im sogenannten Westen liegt.

  7. Sehr geehrter Herr Goldmann,

    vielen Dank für Ihre Antwort.

    Zunächst nehmen Sie in Ihrer Antwort bezug auf die 1990er Jahre. Eine Zeit der Verblendung im Völkerrecht, wie ich es sagen würde. Der Kalte Krieg war vorbei, “The End of History” wurde proklamiert und man hielt es nur für eine Frage von wenigen Jahren, bis das “Siegesmodell” westliche Demokratie auf der ganzen Welt einzug hält.

    Außerdem wurde gerade den Staaten des sogenannten Globalen Südens in der sogenannten Dekolonialisierungsphase keine (sogar nach westlichen Mäßstäben) demokratische Option geboten. Es war vielmehr ein “Friss oder Stirb” – unterwirf dich allen geltenden Regeln, an deren Bildung du nicht teilgenommen hast. Den Staaten des sogenannten Globalen Südens war es außerdem nicht möglich, trotz Stimmenmehrheit bei den Vereinten Nationen für sie wichtige Änderungen im Völkergewohnheitsrecht durchzusetzen.

    Letzlich möchte ich auf einen tiefer liegenden Punkt hinaus. Das was man sich Vorstellt, wenn man das Wort “Demokratie” gebraucht. Wie Sie ja auch sagen, beziehen Sie sich dabei auch geistesgeschichtliche Entwicklungen der europäischen Aufklärung – Säkularisierung (wobei das Staatsoberhaupt des Vereinigten Königreichs gleichzeitig Oberhaupt der Kirche ist), Gewaltenteilung, etc. Dies ist ein regionales Phänomen und den universellen Anspruch müssten Sie begründen. Ich sehe ihn nicht. Und ihn zu proklamieren wäre mehr als ahistorisch.

    Beste Grüße,
    Edward Martin

  8. Sehr geehrter Edward,

    die „überlieferten Grundsätze“ stammen geistesgeschichtlich konkret aus der europäischen Aufklärung. Sie finden jedoch auch Parallelen in vielen anderen Kulturen. Amartya Sen hat ein Kapitel in „A theory of justice“ dazu geschrieben.

    Völkerrechtlich wurde Demokratie in den 1990ern zu einem zu erstrebenden Ziel (wenngleich nicht zu einer handfesten Pflicht; siehe Petersen, Demokratie als teleologisches Prinzip – an konkreten Pflicchten gibt es nur den Art. 25 IPBürgPolR, der nur allgemein eine Beteiligung an der Ausübung öff. Gewalt einfordert.). Das ging keinesfalls nur vom Westen aus. Es wurde vielmehr u.a. von der UNO gefördert, in der der globale Süden die Stimmenmehrheit stellt. Auch regionale Instrumente in Lateinamerika und Afrika enthalten vielfach eindeutige, starke Bekenntnisse zur Demokratie, und in etlichen Staaten dieser Regionen herrscht grundsätzlich Demokratie. In Asien ist es diverser – neben etablierten Mehrparteiensystemen wie in Japan, Indien und Südkorea (alles keine westlichen Staaten!) gibt es dort auch „bekennende Autokratien“, v.a. im Nahen Osten. Insgesamt erscheint es aber nicht gerechtfertigt, Demokratie als westliche Idee abzutun. Das ist kein Neokolonialismus.

    Problematisch wird es erst, wenn mangelnde Demokratie als Grund für militärisches Eingreifen genommen wird. Aber darum ging es nicht in meinem Text.

  9. Hallo Herr Goldmann,

    vielen Dank für Ihren Beitrag. Ich habe jedoch einige Fragen über deren Antwort ich mich freuen würde.

    1. Woher kommen die “überlieferten Prinzipien demokratischen Regierens”? Wo ist die Blaupause? Sind solche Prinzipien auch in historischen außereuropäischen Gesellschaften zu finden?

    2. Meinen Sie nicht auch, dass Sie den größeren Teil der Welt in Ihrer Analyse unberücksichtigt lassen? Was wäre zum Beispiel “[d]as seit Ende des 19. Jahrhunderts vertraute Parteienspektrum” in sub-Sahara Afrikas; oder Südostasiens?

    Wenn Sie tatsächlich eine internationale Perspektive und einen internationalen Rahmen meinen (was der Begriff Internationalismus suggeriert), so erscheint es mir, als würden Sie Prinzipien, die lediglich ein historisches Phänomen einer vergleichsweise kleinen Region der Welt darstellen, als Lösung für die gesamte Weltbevölkerung präsentieren.

    Ich finde es ingesamt schwierig von einer Analyse einer kleinen Weltregion Schlüsse für die Etablierung eines “wehrhaften Internationalismus” abzuleiten.

    Beste Grüße,
    Edward

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