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Chiliasmen des Völkerrechts zwischen Verheißung und Verdrängung

Zum Zukunftsdurst einer Disziplin

10.06.2014

Das Forschen nach der Zukunft ist eine gefragte Kunst in der Völkerrechtswissenschaft. Wo man sich umsieht, werden Visionen des Bevorstehenden feilgeboten. Als das Max Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht vor einigen Jahren ein neues Direktoriumsmitglied zu küren hatte, wurden die Kandidaten anhand ihrer Prophezeiung der „Zukunft der Völkerrechtswissenschaft in Deutschland“ beurteilt. Die Goethe-Universität Frankfurt bittet in diesen Tagen zu ihrem 100. Geburtstag zwei der ganz großen Sterne am Völkerrechtshimmel – Martti Koskenniemi und Joseph Weiler – Licht auf den künftigen Weg des internationalen Rechts zu werfen. Dieser Blog wiederum sucht in vielfältigen Zukunftsbildern aus dem wissenschaftlichen Nachwuchs den Schwung der Verheißung für sein neues Gesprächsmedium.

Die Liaison von Völkerrecht und Zukunft

Zweifellos: Zukunftsdurst gibt es auch in andern Feldern menschlichen Denkens und Tuns. Doch in der Auseinandersetzung mit der überstaatlichen Rechtsordnung besteht eine besondere Affinität zur Kategorie des Künftigen. Bereits Kant hat diesen Zusammenhang in seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ prominent herausgestellt.

Die Antizipation der Zukunft und das darin geborgene Bewusstsein unserer Geschichtlichkeit bildet eine grundlegende Form der Selbstverständigung, die sich durch ihre eminent praktische Bedeutung auszeichnet. Im Lichte der Zukunft erkennen wir uns als Wesen in Bewegung. Wir erfahren uns als Teilnehmer größerer Prozesse und erleben uns als Glieder von Gemeinschaften, die die Dynamik vieler Einzelgeschichten als Zusammenhang zu begreifen erlauben. Das Bewusstsein individueller und kollektiver Zukunft macht uns die unhintergehbare Begrenztheit unseres gegenwärtigen Standpunkts bewusst, eröffnet aber ebendarin die Möglichkeit, die Grenzen der Gegenwart zu überschreiten. Die Erfahrung der Geschichtlichkeit ist so zum einen die Erfahrung der Handlungsfähigkeit, der Möglichkeit sich selbst, andere und die Welt im Zusammenspiel zu formen. Andererseits enthüllt die Einsicht ins Geschichtliche die prekäre Verfasstheit menschlicher Handlungspotenz: Individuelles Denken und Handeln offenbart sich als begrenzt, fehlbar und kontingent, die Frucht aller Mühen durch und durch abhängig vom Zusammenhang mit dem Denken und Handeln anderer und den Zufälligkeiten der Welt.

Aus dieser Konstellation gewinnen die Völkerrechtsvisionen ihre Bedeutung. In ihnen wird der ultimative Gesamtzusammenhang menschlichen Handelns thematisch, dem das Einzelhandeln unterworfen ist, während es ihn zugleich mitgestaltet. Die Hoffnung, dass dieser weltgesellschaftliche Gesamtzusammenhang nicht in einem heillosen Kampf untergeht, sondern das Gerüst eines friedlichen und gerechten Miteinander ausbilden wird, verbunden mit dem Bewusstsein, dass die Verwirklichung dieser Idee noch aussteht und menschlicher Anstrengung bedarf, ist ein essentielles Fundament engagierter Teilnahme an den Geschicken der Welt.

Bemächtigung der Zukunft durch die Gegenwart

Der Grat kritischer Hoffnung ist allerdings schmal. Droht auf der einen Seite die Kritik am Bestehenden in Fatalismus zu verfallen, so stürzt auf der andern Seite die Hoffnung bald in die Heiligung des Gangs der Dinge. Vor allem letzterer Unfall muss im Blick auf den Mainstream des Völkerrechtsdenkens oft verzeichnet werden. Zukunft erscheint dann nicht mehr als ein Anderes der Gegenwart, sondern bloß als Vollendung des schon Angebrochenen. Nicht alle nehmen für die eigene Zeit so unverblümt wie Francis Fukuyama das Ende der Geschichte in Anspruch, in der Sache sind viele Erzählungen aber nicht bescheidener. Die krude und monotone Vergangenheit bietet den Hintergrund für einen glanzvollen Auftritt des Gegenwärtigen, die Zukunft entschuldigt verbliebene Makel und sichert den Schreibenden der Geschichte die ehrenvolle Aufgabe der Perfektionierung.

Vom Bilateralismus zum Gemeinschaftsinteresse, von der Privatrechtslogik zur kosmopolitischen Konstitution, vom Souveränitätsfetisch zum Humanitätsideal: Die Narrative sind gut vertraut – so gut, dass schon diese Vertrautheit stutzig machen muss. Wie kann es sein, dass Generationen über Generationen dieselbe „Neuigkeit“ verkünden? Wie konnte zum Beispiel Alfred Verdross 1926 von der „Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ wissen? Ist die Ausbildung konstitutioneller Strukturen nicht die große Neuerung unserer Tage? Oder zumindest der Phase nach 1989? Oder jedenfalls der Neuordnung nach dem zweiten Weltkrieg? Markiert die Lotus-Entscheidung von 1927 nicht die besten Tage des absoluten Souveränitätsdenkens, das von einer Völkerrechtsgemeinschaft nichts ahnt? – Auch anderen Zügen der gegenwärtigen Ordnung wird durch Verkürzung der Vergangenheit der Geschmack erfüllter Tage verliehen. Doch ob Individuenstatus, Staatsverständnis oder Weltgemeinschaftsideal – kaum je lässt sich die Vergangenheitskarikatur der Gegenwartsentwürfe in den Quellen vergangener Jahrhunderte wiederfinden.

In solchen Eroberungen der Zukunft durch die Gegenwart geht das Objekt der Sehnsucht doppelt verloren. Der postulierte Anbruch der Vollendung verdrängt die Erfahrung eines ausstehenden Anderen von Vergangenem und Gegenwärtigem, welches die das aktuelle Bewusstsein transzendierenden Grenzen des Präsenten offenbart und inmitten unserer routinierten Handlungszusammenhänge die Möglichkeit eines Neuen verheißt. Gleichzeitig werden die Spuren der Zukunft im Bild des Vergangenen verschüttet. Gereinigt von Spannungen, Widersprüchen und Ambivalenzen kann sein langweiliges Dunkelgrau nicht mehr als ein Ort verpasster und geglückter Brüche studiert werden, der stets von der Kategorie des Künftigen in die Unruhe von Angst und Hoffnung versetzt wurde. Statt von der Unreinheit des Gewesenen über eigene Spannungen unterrichtet und zur Suche nach einem Wandel getrieben zu werden, scheint die Gegenwart in sicherer Distanz – und bleibt umso fester an das Vormalige gekettet.

Die Pathologie liegt freilich nicht in der schlichten Diagnose vergangenen Wandels. Natürlich hat sich viel verändert. Auch die Verknüpfung dieser Prozesse mit einem Fortschrittspostulat ist nicht an sich problematisch. Das war auch Kants Option. Mit Grund werden einige Errungenschaften bewundert und gefeiert. Verloren geht die existentielle Dimension der Zukunft und damit das Geschichtliche überhaupt jedoch dann, wenn der Lauf der Rechtswelt als zwangsläufige Eindeutigkeit erscheint und der Stand der Stunde allzu nah an das Ziel der großen Reise heranrückt. Hier wird die Erfahrung des Anderen, Ungedachten, eben Noch-Nicht-Präsenten unterdrückt, die uns unsere Grenzen, damit aber auch die – stets prekäre, stets riskante – Möglichkeit zu handeln offenbart.

Das Zukunftsversprechen des Völkerrechts

Ohne das Aufscheinen der Zukunft kann Recht bestenfalls der Verwaltung des Gegebenen dienen. „Zukunft“ gibt es hier als Effizienzsteigerung, Erschließung neuer Regulierungsfelder und aufmerksame Anpassung an veränderte Umstände. Dass Recht mehr ist als Verwaltung, dass es gerade auch als Völkerrecht das Versprechen der Universalität ausspricht, dies hängt schlechterdings am Wissen und der Bemühung um das Andere, Unberücksichtigte, Ungedachte, das überkommene Routinen unterbricht, Blindheiten der herrschenden Ordnung herausstellt und Grenzen vermeinter Allgemeinheiten ins Licht rückt. Deshalb ist die Verdrängung der Zukunft des Völkerrechts so bedenklich. Deshalb bleibt aber auch jedes Vergessen höchst vorläufig. Denn die Erinnerung an die Zukunft behält in der Kraft des Rechts selbst ihren unwiderstehlichen Ausdruck.

 

Eine Replik zum Beitrag findet sich hier.

 

Benedict Vischer, MA, MLaw, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max Planck Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg und am Exzellenzcluster “Die Herausbildung normativer Ordnungen” der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

 

Cite as: Benedict Vischer, “Chiliasmen des Völkerrechts zwischen Verheißung und Verdrängung: Zum Zukunftsdurst einer Disziplin”, Völkerrechtsblog, 10 June 2014, doi: 10.17176/20170104-165220.

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Benedict Vischer
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